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Alfred Schittenhelm

geb. am 16.10.1874 in Stuttgart
gest. am 27.12.1954 in Rottach-Egern

Mitglied der DGIM 1907 bis 1954

Alfred Schittenhelm wurde am 16. Oktober 1874 in Stuttgart als Sohn des Oberregierungsrats Wilhelm von Schittenhelm und seiner Frau Julie, geborene Hauck, geboren. Der Vater, ein später in den persönlichen Adel erhobener Beamter im königlich-württembergischen Dienst, hatte seine aus einer Heilbronner Kaufmannsfamilie stammende Frau am 16. September 1871 geheiratet. Alfred Schittenhelm absolvierte nach dem Besuch von Gymnasien in Stuttgart und Heilbronn von Oktober 1894 bis März 1895 seinen Wehrdienst beim Infanterieregiment 125. Danach studierte er Medizin, zunächst in Breslau und Genf, dann in Tübingen. Dort wurde er 1898 mit einer Arbeit über einen „Fall vollständiger Agenesie des Vorder-, Mittel- und Zwischenhirns“ promoviert.

Schittenhelm wurde Assistent am Karl-Olga-Krankenhaus in Stuttgart (1899/1900) und an der Medizinischen Klinik in Breslau (1900–1903). Zusätzliche Studien nahm er am am Ersten Chemischen Laboratorium der Universität Berlin auf. Im Januar 1904 habilitierte er sich für Innere Medizin an der Universität Göttingen und war hier als Assistent in der Medizinischen Klinik tätig (1904/05). Danach ging er abermals zu Studienzwecken an das Erste Chemische Laboratorium in Berlin, wurde Assistent der Medizinischen Klinik an der Charité und erhielt 1907 den Professorentitel. Von 1907 bis 1912 war er als außerordentlicher Professor für klinische Propädeutik und Geschichte der Medizin in Erlangen tätig, wechselte als Direktor der Medizinischen Klinik nach Königsberg und folgte 1916 einem Ruf als Direktor der Medizinischen Klinik Kiel. Rufen an die Universität Leipzig (1924/25), an die I. Medizinische Klinik Wien (1930/31) und an die I. Medizinische Klinik Berlin (Nachfolge Wilhelm His 1932/33) folgte er hingegen nicht. Letzteres kam auch für die Kieler Kollegen überraschend, war er doch seit April 1932 vertretungsweise an der Charité tätig.

Als Schittenhelms Hauptarbeitsgebiete gelten Nuklein- und Purinstoffwechsel mit deren Fermenten, Harnsäureentstehung und Gicht, Anaphylaxie und Allergie, endokrine Drüsen (Schilddrüse, Jodstoffwechsel), Hypophyse/Zwischenhirnsystem, Hämatologie, Infektionskrankheiten, Röntgenologie, Zinkfieber und Klimatologie.

Mitglied von NSDAP und SS

Seit dem 1. Mai 1933 gehörte Schittenhelm der NSDAP an (Nr. 2732711). Zudem war er Mitglied der SS (Nr. 259429), des NSD-Dozentenbunds, der Deutschen Arbeitsfront, der NSD-Volkswohlfahrt, des NSD-Ärztebunds, des Reichsluftschutzbunds, des NS-Altherrenbundes sowie des NS-Reichskriegerbundes. In der SS wurde er mit Wirkung vom 30. Januar 1935 zum SS-Sturmbannführer i.S. und zum SS-Führer z.b.V. RFSS (Sanitätsamt) befördert. Seine Frau war mit Schittenhelm in die NSDAP aufgenommen worden (Nr. 2732712) und Mitglied der Frauenschaft. Der Sohn gehörte der HJ an.

Im Juni 1934 wechselte Schittenhelm an die Universität München als Ordinarius für Innere Medizin und Direktor der Zweiten Medizinischen Klinik. Hier war er Nachfolger Friedrich von Müllers, der ihn in seinen „Lebenserinnerungen“ mit keinem Wort erwähnt. Wohlwollen fand er hingegen bei der SS. Der „Reichsführer-SS“ Heinrich Himmler sicherte zu, „daß die Angelegenheit ‚Professor Schittenhelm‘ mit allen Mitteln durch die SS gefördert werden sollte“ (Reichsarzt der SS, SS-Standartenführer Georgi an Stabsführer des Rasse- und Siedlungsamtes SS, SS-Sturmbannführer Günther Brandt, 12. Julmond/Dezember 1934). Der für die Ortsgruppe München-Ludwigstraße zuständige Münchener Ortsgruppenleiter Willy Scheide bewertete am 12. Januar 1939 Schittenhelms „soziales Verhalten“ als „sehr gut“ und schrieb über ihn, er sei „ein sehr guter Nationalsozialist und in politischer Beziehung vollkommen einwandfrei“. 1939 war er in der Ludwigsstraße 22a in München gemeldet.1

Alfred Schittenhelm steht an der Spitze der DGIM wie viele Funktionsträger in den Anfangsjahren des „Dritten Reichs“ für Anpassung an die Diktatur in vorauseilendem Gehorsam, für Selbstgleichschaltung.2 Ohne Skrupel betrieb er die Absetzung seines als Juden verfolgten Vorgängers im Amt des DGIM-Vorsitzenden Leopold Lichtwitz. Er „gehörte damals zu den wenigen medizinischen Ordinarien von Rang, die sich dem Nationalsozialismus zuwandten“ und sich der „besonderen Unterstützung Himmlers“ erfreuten.3 Vor der Reichstagswahl am 5. März 1933 rief er als Vertreter der „deutsche[n] Geisteswelt“ zur Wahl der NSDAP auf. Seine Unterschrift findet sich unter der am Vortag im „Völkischen Beobachter“ abgedruckten, von insgesamt 300 Professoren und Privatdozenten unterzeichneten Erklärung, in der es heißt: „Wir […] deutsche Universitäts- und Hochschullehrer erklären heute in aller Öffentlichkeit, daß wir in der Machtübernahme Adolf Hitlers und dem Zusammenschluß der nationalen Kräfte, die am Wiederaufbau des deutschen Volkes mit tätig sein wollen, den richtigen Weg sehen, der ungeheuren Not und Verelendung des deutschen Volkes Einhalt zu gebieten. […] Die marxistisch-bolschewistischen Einflüsse auf den Geist unsers Volkes müssen aufhören.“4 Der „Völkische Beobachter“ dankte ihm für seine Fürsprache in einer Gratulation zum 60. Geburtstag: „In Kiel, wo er sich auch gegen die Verjudung der Universität wandte, war Schittenhelm wegen seiner nationalen Haltung bekannt, von Seiten der damals regierenden Kreise deshalb mancher Anfeindung ausgesetzt“.5

Protagonist der Selbstgleichschaltung

Etwaige Handlungsspielräume lotete Schittenhelm nicht aus, vielmehr suchte er nach Bestätigung durch den sich auf diese Weise umso leichter etablierenden NS-Staat. So fragte er in Berlin nach, „ob von der Reichsregierung eine geeignete Persönlichkeit zum Führer der Gesellschaft für innere Medizin ernannt werden soll oder wie bisher durch Wahl aus dem Vorstand der Gesellschaft der Führer bestimmt werden soll.“6 In Berlin entschied man, die gesellschaftsinterne Wahl sei künftig durch das Ministerium zu bestätigen.7 Im Ministerium folgte man damit einer Linie, die festgelegt worden war, nachdem ein Petent namens Dr. Adolf Schiemann am 25. März 1933 im Vorfeld des Berliner Chirurgen- und des Wiesbadener Internistenkongresses darum ersuchte, „dass der Vorsitz und die Vortragsfolge nicht vorwiegend von Herren jüdischer Confession beherrscht werden.“8

Schittenhelm bemühte sich auch während des Kongresses darum, gegenüber dem neuen Regime Ergebenheit zu signalisieren. Dazu hätte es wahrscheinlich nicht des angeblich durch Ludolf von Krehl verbreiteten Gerüchts bedurft, es stünde ein „SA-Sturm“ bereit, „um einzugreifen, wenn irgend etwas vorkomme, was gegen die Ansichten der Partei verstosse.“9 Schittenhelm sorgte mit Zustimmung des Ausschusses dafür, dass der Kongress „ein Begrüssungstelegramm an den Reichspräsidenten v. Hindenburg und an den Reichskanzler Adolf Hitler“ schickte.10 Hindenburg wurde „das Bekenntnis zu treuer Arbeit für die Gesundheit unseres Volkes im Sinne einer nationalen Volksgemeinschaft“ übersandt; das längere Telegramm an Hitler, das ihn an seinem 44. Geburtstag erreichte, lautet: „Die Deutsche Gesellschaft für innere Medizin, die zu ihrer 45. Tagung in Wiesbaden versammelt ist, spricht dem Führer des neuen Deutschlands zum heutigen Tage ihre ergebensten Glückwünsche und ihre aufrichtigste Verehrung aus. Als deutsche Ärzte sehen wir unsere Hauptaufgabe darin, durch Forschung und Ausbau der ärztlichen Wissenschaft der Volksgesundheit nach besten Kräften zu dienen. Als deutsche Männer stellen wir uns freudig in den Dienst all der Bestrebungen, die die nationale und sittliche Wiederaufrichtung unseres Volkes fördern sollen.“11 Das Telegramm, das die wenigen Frauen in der DGIM ignorierte, war namens des Vorstands von Schittenhelm und Géronne unterzeichnet.12

Ein aufmerksamer Beobachter wie der Romanist Victor Klemperer, Bruder des 1932 mit der DGIM-Ehrenmitgliedschaft ausgezeichneten Georg Klemperer, notierte in sein Tagebuch: „Und alles kuscht. Wie jämmerlich der Ärztekongreß in Wiesbaden, Dank für Hitler – wenn auch die Rassefrage noch nicht geklärt, wenn auch die ‚Fremden‘, Wassermann, Ehrlich, Neisser, uns Bedeutendes gegeben – wir danken Hitler, er rettet Deutschland!“13

Viel beachtet war Schittenhelms Rede zur Kongresseröffnung, in der Lichtwitz‘ Vertreibung aus dem Amt beschönigt wurde: „Die heutige Tagung steht am Beginn einer neuen Ära. Die gewaltigen Umwälzungen, welche die in voller Auswirkung begriffene nationale Revolution mit sich bringt, haben auch unsere Gesellschaft ergriffen. Der für die diesjährige Tagung gewählte Vorsitzende, Herr Lichtwitz, hat in Würdigung der geänderten Verhältnisse die Leitung abgegeben. An dem Programm war in letzter Stunde noch manche Änderung zu vollziehen. Die Erörterung des Nebennierenproblems und eine Reihe von angemeldeten Vorträgen fielen weg.“ Schittenhelm fand beim Gründervater Frerichs ihm passend erscheinende Worte für diese neue „Ära“ aus dem Jahre 1882: ‚Die Deutsche Heilkunde steht auf eigenem Grund und Boden, sie folgt seit Dezennien nicht fremden Einflüssen und Eingebungen; sie ist mindestens ebenbürtig der aller anderen Kulturvölker, deren Impulse uns nicht leiten, für uns nicht maßgebend sind, so gern wir sie auch anerkennen, wie sie es nach unserem Ermessen verdienen.‘“ Schittenhelm versicherte, „im Sinne unserer Gründer“ wolle sich die DGIM „einschalten in die großen Fragen unserer Zeit, soweit sie den ärztlichen Standpunkt berühren."

Der DGIM-Vorsitzende unterstützte die vom Nationalsozialismus „angestrebte Eingliederung sämtlicher Deutschstämmiger, vor allem aus unseren Nachbarstaaten“, und griff ausländische Kritiker scharf an: „Es ist mir ein Bedürfnis, von dieser Stelle aus zu erklären, daß die kürzlich eingeleitete Hetze des Auslandes deutschfeindlichen Motiven entsprang und jeder sachlichen Grundlage entbehrte. Auch nach den Erfahrungen des deutschen Ärztestandes muß sie als gehässig, maßlos und unwahr bezeichnet werden.“

Zuletzt habe „der deutsche Ärztestand in steigendem Maße unter der Verschlechterung der Verhältnisse zu leiden gehabt, wobei ihm auch der Einfluß auf die Volksgesundheitspflege mehr und mehr“ entglitten sei. Zufrieden stellte er fest, dass die „unglückselige politische Zersplitterung und das Unverständnis weiter Kreise, leider auch in eigenen Reihen“, nun überwunden sei: „Die großartige nationale Sammlung und Einigung und das energische Angreifen aller nationalen Aufgaben hat endlich auch im Ärztestand die Möglichkeit einer gründlichen Neuordnung geschaffen, an der er mit allen ihm zur Gebote stehenden Kräften mitarbeitet. Unsere Gesellschaft - ein wichtiges Teilstück der deutschen Ärzteschaft - hat die Pflicht und den Willen, den nationalen Aufbau auch ihrerseits intensiv zu fördern.“

Schittenhelm sah, dies machen seine Worte deutlich, die Zeit demokratischer Kontroverse auch innerhalb der DGIM für überwunden an und wollte die Fachgesellschaft zum Instrument nationalsozialistischer Rassenpolitik machen: „Ein besonders im Ausland heftig angegriffenes Ziel unserer Regierung ist, wie der Herr Reichskanzler Adolf Hitler vor kurzem den Vertretern der ärztlichen Spitzenverbände unter Führung der Herren Stauder und Wagner erklärte, die Reinigung des Volkes und namentlich der intellektuellen Schichten von fremdstämmigem Einfluß und rassefremder Durchsetzung, damit das deutsche Kultur- und Geistesleben wieder dem natürlichen Anspruche Deutschlands auf arteigene geistige Führung gerecht werde. Im Gegensatz zu den Vorkriegszeiten hat sich in den letzten 15 Jahren eine große Flut rassefremder Elemente, besonders aus dem Osten, über Deutschland ergossen, welche in falsch verstandenem Liberalismus sich vielfach nicht nur ein temporäres Gastrecht, sondern das Heimatrecht erwerben konnten, so daß die übergroße fremdstämmige Vermischung tatsächlich eine Gefahr für die deutsche Rasse und Kultur wurde. Jetzt soll diese Überzahl wieder beseitigt und ausgeschaltet werden. Daß es dabei im Einzelfall nicht ohne Härten abgeht, ist klar. […] Wenn ich diese aktuellen Fragen gerade hier etwas breiter erörtere, so geschieht es nicht nur deshalb, weil ich unseren ausländischen Teilnehmern einen Einblick in die neue deutsche Ideenwelt geben möchte, sondern auch darum, weil gerade vor dem Forum unserer Gesellschaft rasse- und erbbiologische Fragen eine besondere Berücksichtigung erfahren müssen.“

Befürworter der "Rassenhygiene"

Der Kongresspräsident zog eine Linie von Forschungen und Reden Erbs, Zieglers, Martius‘ und Morawitz‘ zu aktuellen Untersuchungen über die „Zwillingstuberkulose“ von Diel und Verschuer, um fortzufahren: „Man kann es vom ärztlichen Standpunkt aus freudig begrüßen, daß die erbbiologischen Probleme und die das Schicksal eines Volkes aufs nächste berührende Bedeutung der Rassenmischung energisch aufgegriffen werden. Es ist dankbar anzuerkennen, daß der Herr Reichskanzler selbst und die hinter ihm stehenden Kreise der Erörterung dieser wichtigen Fragen einen starken Auftrieb gaben […]. Die Frage der Bedeutung der Rassenkreuzung ist freilich, wie Eugen Fischer jüngst ausführte, im wissenschaftlichen Sinne noch nicht völlig geklärt. Er spricht aber die Meinung aus, daß es z.B. einen ungeheuren Unterschied macht, ob Sprößlinge aller kultivierter Judenfamilien sich mit nordischen Menschen kreuzen oder solche aus kürzlich eingewanderten ostjüdischen Familien. Die Klärung aller mit der Rassekreuzung zusammenhängenden Fragen wird noch einer vieljährigen Forschung bedürfen. Dem Sinne eines reinen Volkstums und seiner Erhaltung entspricht aber zweifellos am besten und sichersten die volkseigene Erneuerung.“

Anders als die spätere NS-Mordpolitik glaubte Schittenhelm, mit Blick auf Juden Unterschiede machen zu können. In diesem Sinne fand er auch ein Wort für manche „in Deutschland ansässig gewesene Fremdstämmige“ und meinte damit jüdische Pioniere der Medizin wie Ehrlich, Neisser, Minkowski und Wassermann: „Man kann wohl annehmen, daß der lange Einfluß äußerer Verhältnisse, vor allem das Zusammenleben mit der deutschen Rasse und deren Lebens- und Denkart, von erheblicher Bedeutung für die Entwicklung dieser Persönlichkeiten war.“

Durchsetzen sollte die „Rassenhygiene“ der in seiner Bedeutung zu stärkende Hausarzt, dem Schittenhelm das als ungesund gebrandmarkte „Kurpfuscherwesen“ gegenüberstellte.14

Verlängerung des Vorsitzes

Der NS-Kurs Schittenhelms wurde auch im Ausland aufmerksam registriert. So berichtete die New York Times am 20. April 1933 unter der Überschrift „To Study ‚Race Problem.‘ German Medical Society Will Have New Program, Says Chairman“ über den Kongress der DGIM. Schittenhelms Wort von der Hetze („atrocity propaganda“) wurde ebenso transportiert wie seine Zuversicht mit Blick auf die „new era […], in which the medical society would ‚actively and practically employ its energies in promoting national reconstruction.‘“ „The maintenance of the German race and German culture“, so erfuhren die Leser der New York Times, sollte künftig in den Vordergrund der Internisten-Kongresse rücken.15

Die Frage, ob Alfred Schittenhelm nach dem Kongress von 1933 nun auch dem von 1934, für dessen Leitung er ursprünglich vorgesehen war, vorstehen sollte, wurde einmütig entschieden. Die Richtung gab Paul Morawitz vor. Der Ausschuss stimmte seiner Ansicht zu, der „Kongress 1933“ sei „in seinem wissenschaftlichen Programm nicht ein Kongress des Herrn Schittenhelm, sondern vorwiegend der Kongress des Herrn Lichtwitz“. Deshalb sollte Schittenhelm auch dem Kongress 1934 vorstehen, zumal „die Stabilität des Präsidiums […] in jetziger Zeit erwünscht“ sei.16 Schittenhelms Kurs der Anpassung an das NS-Regime fand Anerkennung. Richard Siebeck zum Beispiel lobte in eigenwilliger Metaphorik Schittenhelms Agieren als Ersatzvorsitzender für den verfolgten Lichtwitz. Er sprach ihm „herzlichen Dank aus, den dieser um so mehr verdiene, als er in letzter Stunde vor der Schlacht eingesprungen sei und das schwer und reich beladene Schiff des Kongresses mit sicherer und fester Hand durch die Unruhen der Zeit hindurchgeführt habe.“17

Schittenhelm kündigte nach seiner Bestätigung an, den Kongress der DGIM durch Zentralisierung stärken zu wollen: „Die verschiedenen Kongresse für Teilgebiete der inneren Medizin, wie der Kongress für Stoffwechselkrankheiten, der Balneologenkongress, der Kreislaufkongress usw.“ sollten sich mit dem großen Kongress der DGIM „örtlich und zeitlich vereinigen“ und ihre eigenen Tagungen „möglichst im Anschluss an diesen halten.“18 Bald war von der „Angliederung anderer Gesellschaften“ die Rede.19 Dieses Anliegen Schittenhelms war nicht neu. Schon zwanzig Jahre zuvor hatte er Schritte in diese Richtung unternommen, um es den Ärzten zu erleichtern, den Überblick über die Breite der Forschung zu erhalten. Er zählte zu den Initiatoren der 1913 gegründeten „Zeitschrift für die gesamte experimentelle Medizin“ und des seit 1912 erscheinenden „Kongreßzentralblatts“.20

NS-nahe Themensetzung

Schittenhelm sorgte dafür, dass der Kongress von 1934 NS-nahe Themen aufgriff. Er schlug vor, „das Thema der Vererbung“ neben „Lokalisationslehre“, „Sexualhormone“ und „Herzbehandlung mit Chinidin und Strophantin“ in den Vordergrund zu rücken. „Als mögliche Referenten“ wurden unter anderem Eugen Fischer, Otmar von Verschuer, Wilhelm Weitz und Otto Naegeli genannt.21 Die beiden Letzteren waren DGIM-Mitglieder. Alle vier Professoren waren in unterschiedlicher Ausprägung Protagonisten der „Rassenhygiene“, folgten der Einladung und bereiteten den wissenschaftlichen Boden für das, was Schittenhelm in seiner nunmehr zweiten Kongresseröffnungsrede politisch beschrieb: „Eines der größten Verdienste, die sich unser Führer und der Nationalsozialismus um das Deutsche Volk und darüber hinaus um die Welt erworben haben, ist das große Interesse für alle Vererbungsfragen und das aktive Eintreten für die rassenmäßige Pflege des Volkes.“22 Schittenhelm machte sich das Ziel Erwin Baurs einer „positiven Eugenik“ durch „Auslese“, nicht einer „negativen Eugenik“ durch Aussonderung und Tötung zu eigen. Zustimmend zitierte er Baur: „Pflanzen und Tiere, auch der Mensch können als ‚Art‘ nur gesund bleiben, wenn eine scharfe Zuchtwahl alles erblich Minderwertige ständig ausscheidet. Da für den Kulturmenschen die natürliche Zuchtwahl zum großen Teil ausgeschaltet oder sogar durch eine verkehrt gerichtete ersetzt ist, bleibt nur übrig, daß wir ganz bewußt Maßnahmen in dieser Richtung ergreifen. Tun wir das nicht, dann geht unser Volk zugrunde“. Mit eigenen Worten schloss Schittenhelm: „Den Forderungen des neuen Deutschland folgend, wollen wir die Vererbung von unserem Standpunkt eingehend erörtern, um unser Teil beizutragen zur Errichtung und Festigung des für eine zielbewußte Rassenpflege notwendigen Fundamentes.“23

Sehnsuchtsort Kiel

Das linientreue Verhalten als DGIM-Vorsitzender deckt sich mit Alfred Schittenhelms Auftreten als Universitätsprofessor in München. Freilich sehnte er sich bald nach Kiel zurück, wo er nach eigener Aussage seine „glücklichsten und fruchtbarsten Jahre“ verbracht hatte. Wie zuvor schon in Kiel gründete Schittenhelm auch in München eine „Abteilung für Erbpflege und Erbforschung“ an der Medizinischen Klinik. Dies ist bemerkenswert, da sich in München bereits die Genealogisch-Demographische Abteilung (GDA) der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie unter Ernst Rüdin und das Institut für Rassenhygiene der Medizinischen Fakultät befanden. Die Schittenhelmsche Abteilung trat aus deren Schatten nie hervor.24 Durch ihre Gründung aber hatte Schittenhelm signalisiert, dass er seine Arbeit als Arzt und Forscher ganz in den Dienst der nationalsozialistischen Ideologie stellen wollte.

Mit Blick auf vom NS-System angeordnete Sterilisationen und Abtreibungen war Schittenhelm kein Scharfmacher, sondern mahnte zur Besonnenheit: „Die tägliche Praxis und noch mehr meine Gutachtertätigkeit in einigen Prozessen zeigten mir immer wieder, mit welcher Unkenntnis und zum Teil auch Leichtfertigkeit da und dort vorgegangen und wie öfter selbst da die exakte Indikationsstellung vermißt wurde, wo eine Gruppe von Ärzten und Fachärzten zur Beurteilung des einzelnen Falles sich vereinigte.“25 Dabei verdeckt Schittenhelms Aufsatz den neuen Zwangscharakter von Sterilisation und Abtreibung, der am 1. Januar 1934 mit den „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ Rechtskraft erlangt hatte. Denn als einen Beleg seiner These verweist er auf von 1924 bis 1931 in Kiel erhobene Zahlen: „In dieser Zeit wurden 178 Unterbrechungen vorgenommen, davon nur unterbrochen 90, unterbrochen und sterilisiert 88. In derselben Zeitspanne wurde 290mal die Unterbrechung abgelehnt.“26

Schittenhelm beteiligte sich auch an der von der DFG geförderten Krebsforschung. Drei Jahre nach Beginn der 1937 aufgenommenen Arbeiten von Dietrich Albers und Karl Hinsberg über „Biologisch-chemische Untersuchungsmethoden zur Frühdiagnose des Karzinoms“ am Berliner Pathologischen Institut wurde er als Kooperationspartner geführt.27 1941/42 endete die Förderung des Projekts.28 Im Bereich der Ernährungsforschung beschrieb Schittenhelm die Folgen von Proteinmangel, ohne dass die Gruppe der Probanden klar beschrieben worden wäre. Der Verdacht unrechtmäßiger Humanexperimente steht im Raum.29

Alfred Schittenhelm blieb während der NS-Zeit ein Internist, der seine Möglichkeiten fachpolitisch geschickt zu nutzen wusste, nicht nur durch die Mitwirkung in Berufungsverfahren.30 Deutlich wurde dies zudem in der Leopoldina, deren Mitglied er seit 1919 war. Er sorgte hier für die Zuwahl regimetreuer Kollegen, versuchte aber zugleich durch die Aufnahme ausländischer Mitglieder das internationale Ansehen der Akademie zu halten. 1940 schlug er erfolgreich Hans Eppinger, Wilhelm Nonnenbruch und Fritz Schellong vor, 1941 und 1943 die Schweizer Walter Frey und Alfred Gigon.31 Schittenhelm selbst bildete, so Max Bürger in einer Gratulation zum 70. Geburtstag 1944, durch seine „Führungsgrundsätze […] Persönlichkeiten eigener Prägung“ heran.32 Acht Lehrstühle wurden zu diesem Zeitpunkt durch seine Schüler besetzt, fünf der Inneren Medizin, zwei für Physiologie und einer für Pharmakologie.33 Als einstige Kieler Mitarbeiter, die später Lehrstühle besetzten, hob er Walter Frey (Bern), Max Bürger (Leipzig), Fritz Schellong (Münster), Paul Wels (Greifswald), Edgar Wöhlisch (Würzburg), Erich Boden (Düsseldorf), C. Fieschi (Siena) und Karl Felix Saller (München) hervor. Auch an den Nobelpreisträger Gerhard Domagk, der in Kiel sein Studium begonnen hatte, erinnerte er.34

Ehrungen nach 1945

Nach dem Ende des NS-Regimes sprach Schittenhelm von sich als einer „völlig unpolitischen Person“, die sich zu Unrecht verfolgt sah.35 Schittenhelm ließ Paul Martini Teile seiner Korrespondenz mit dem Leiter des Springer-Verlags Berlin und Heidelberg, Ferdinand Springer, zukommen, um das Abrücken früherer Verleger und Kollegen von ihm zu dokumentieren. 1949 wurde er emeritiert und, fünf Jahre vor seinem Tod, zum Ehrenmitglied der DGIM ernannt; diese Ehrenmitgliedschaft wurde ihm 2021 aberkannt. Die Ernennung zum Ehrensenator der Universität Kiel folgte im April 1951; 2016 wurde ihm diese Ehrung entzogen.36 Im selben Jahr entschloss man sich, die Kieler Schittenhelmstraße in Rosalind-Franklin-Straße umzubenennen.37


Quellennachweise

Bundesarchiv (BA) Berlin, BDC-Dossier Alfred Schittenhelm; Landesarchiv (LA) Schleswig-Holstein, Schleswig, Abt. 47.6, Nr. 159, PA Alfred Schittenhelm; Stadtarchiv München, Zeitungsausschnittsammlung Alfred Schittenhelm.Vgl. Stefanie Anghelescu, 100 Jahre Kongreß- und Tagungsgeschichte der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM). Eine Darstellung der Geschichte der Inneren Medizin und ihrer Gesellschaft, Diss. med. dent. Heidelberg 1994, S. 42, wo von einer „willige[n] Gleichschaltung der DGIM“ die Rede ist.Hans-Paul Höpfner, Die Universität Bonn im Dritten Reich. Akademische Biographien unter nationalsozialistischer Herrschaft, Bonn 1999, S. 295.Zit. n. Wolf J. Modersohn, Das Führerprinzip in der deutschen Medizin, Diss. med. Kiel 1982, S. 18 f.Stadtarchiv München, Zeitungsausschnittsammlung, Dr. H. B., Dr. Schittenhelm 60 Jahre, in: Völkischer Beobachter, 16.10.1934.Zit. n. Norbert Jachertz, NS-Machtergreifung (II): Abwärts auf der schiefen Bahn, in: Deutsches Ärzteblatt 105 (2008), S. A-781–A-7-784, S. A-781.Vgl. Jachertz, NS-Machtergreifung (II), S. A-781.Zit. n. Norbert Jachertz, NS-Machtergreifung (II): Abwärts auf der schiefen Bahn, in: Deutsches Ärzteblatt 105 (2008), S. A-781–A-7-784, S. A-781. Demnach bestätigt ein Randvermerk, im Sinne des Briefschreibers gehandelt zu haben.Medizinhistorisches Institut (MHI) Bonn, Nachlass (NL) Martini, Nr. 77, Schittenhelm an Martini,11.5.1948.DGIM Wiesbaden, Protokollbuch der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin, 1931–1938, Erste Ausschusssitzung, 17.4.1933.Zit. n. Verhandlungen 45 (1933), S. LXVII; vgl. Schweizer, Eugenik, S. 66.Vgl. Verhandlungen 45 (1933), S. LXVII.Victor Klemperer, Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933–1941. Hrsgg. v. Walter Nowojski u. Mitarb. v. Hadwig Klemperer, 5. Aufl. Berlin 1996, Eintrag 20.4.1933, S. 23.Schittenhelm, Eröffnungsrede, in: Verhandlungen 45 (1933), S. 1–6.Anonymus, To Study ‚Race Problem.‘ German Medical Society Will Have New Program, Says Chairman“, in: The New York Times, 20.4.1933, S. 11.DGIM Wiesbaden, Protokollbuch der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin, 1931–1938, Erste Ausschusssitzung, 17.4.1933.Verhandlungen 45 (1933), S. 424.DGIM Wiesbaden, Protokollbuch der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin, 1931–1938, Erste Ausschusssitzung, 17.4.1933.DGIM Wiesbaden, Protokollbuch der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin, 1931–1938, Zweite Ausschusssitzung, 20.4.1933.Vgl. [Walter] Frey, Alfred Schittenhelm zum 80. Geburtstag, in: Zeitschrift für die gesamte experimentelle Medizin 125 (1955), S. 1–4, S. 3; Wilhelm Buchge, Der Springer Verlag. Katalog seiner Zeitschriften. 1843–1992, Berlin/Heidelberg 1994, S. 45, 82, 91.DGIM Wiesbaden, Protokollbuch der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin, 1931–1938, Zweite Ausschusssitzung, 20.4.1933.A.[lfred] Schittenhelm, Eröffnungsrede, in: Verhandlungen 46 (1934), S. 1–8, S. 7; vgl. Johannes Michael Schröder/Heribert Düppenbecker/Bruno Müller-Oerlinghausen/Fritz Scheler, Die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft: von den Anfängen bis zur Gegenwart. Zur Erinnerung an die konstituierende Sitzung am 26./27. April 1952 in Göttingen, Köln 2003, S. 18.Schittenhelm, Eröffnungsrede 1934, S. 7 f. (fehlt in: Lasch/Schlegel, Hundert Jahre, S. 513).Vgl. Martin P. H. Schencking, Alfred Schittenhelm und die Abteilung für Erbpflege und Erbforschung an der II. Medizinischen Klinik [Krankenhaus links d. Isar] München 1934–1939, Diss. med. München 1999, S. 3 f.Alfred Schittenhelm, Andere interne Indiktionen, in: Hans Stadler (Bearb.), Richtlinien für Schwangerschaftsunterbrechung und Unfruchtbarmachung aus gesundheitlichen Gründen, München 1936, S. 104-113, S. 104; vgl. die überschwängliche Besprechung des Bandes von H. Eymer in: Münchener Medizinische Wochenschrift 83 (1936), S. 984–985.Schittenhelm, Indikationen, S. 105.Vgl. Gabriele Moser, Deutsche Forschungsgemeinschaft und Krebsforschung 1920–1970, Stuttgart 2011 (= Studien zur Geschichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft, 7), S. 171; vgl. ebd., S. 170.Vgl. Moser, Forschungsgemeinschaft, S. 171.Vgl. Alexander Neumann, Nutritional Physiology in the „Third Reich“, in: Wolfgang U. Eckart (Hg.), Man, Medicine, and the State. The Human Body as an Object of Government Sponsored Medical Research in the 20th Century, Stuttgart 2006 (= Beiträge zur Geschichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft, 2), S. 49–60, S. 57 auf der Basis von BA Berlin, R 73/14306, Bericht Schittenhelm, 21.2.1942.Von München aus steuerte Schittenhelm auch zahlreiche Berufungsverfahren der Inneren Medizin. Siehe: UA Innsbruck, Medizinische Fakultät, Reine Berufungsakten, Berufungsakt Innere Medizin 1938–1940.Leopoldina-Archiv Halle, M1.Max Bürger, Alfred Schittenhelm zum 70. Geburtstag, in: Zeitschrift für die Gesamte Experimentelle Medizin, 114 (1944/45), o.S.Bürger, Schittenhelm.LA Schleswig-Holstein, Schleswig, Abt. 47.6, Nr. 159, PA Alfred Schittenhelm, Schittenhelm an Rektor Bargmann/Kiel, 23.4.1951, Abschrift.Medizinhistorisches Institut (MHI) MHI Bonn, Nachlass Martini, Anklagen, Verteidigungen und Gutachten nach dem Krieg, Schittenhelm an Ferdinand Springer, 31.3.1948, Abschrift.www.shz.de, 3.11.2018.www.spd-net-sh.de, www.uksh.de, 3.11.2018.

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