Gedenken
&
Erinnern
Verfehlungen

Richard Siebeck

geb. am 10.04.1883 in Freiburg im Breisgau
gest. am 15.05.1965 in Heidelberg

Mitglied der DGIM bis 1965

Ernennung zum DGIM Ehrenmitglied 1955

Richard Siebeck wurde am 10. April 1883 in Freiburg im Breisgau geboren. Sein Vater war der mit Thekla Landerer verheiratete, theologisch interessierte Verleger Paul Siebeck, der 1891 die bis heute existierende „Zeitschrift für Theologie und Kirche“ auf den Weg gebracht hat.1 Richard Siebeck selbst heiratete 1909 Agnes von Müller, Tochter des Tübinger Theologen Karl von Müller, und nach deren Tod (1922) im Jahr 1923 Marie von Rümelin, Tochter des Tübinger Juraprofessors und zeitweiligen Kanzlers der Universität Max von Rümelin. 2

Siebeck nahm 1901 sein Medizinstudium in Tübingen auf, studierte zeitweilig aber auch in Freiburg und Berlin. 1906 bestand er in Tübingen das Staatsexamen und nahm Praktikantenstellen in Tübingen, Heidelberg und Kopenhagen an. 1907 wurde er in Heidelberg promoviert („Versuche über den Kreislauf der Peripherie“). An der dortigen Medizinischen Klinik blieb er als Arzt unter Ludolf von Krehl tätig (1908–1914). 1912 habilitierte er sich („Über die osmotischen Eigenschaften der Nieren“). Die Grausamkeiten des Ersten Weltkriegs, währenddessen er hauptsächlich als Lazarettarzt bei Sedan im Einsatz war, prägten ihn. Sie führten ihn zu einer verstärkten Beschäftigung mit Glaubensfragen – er stand in Kontakt mit Karl Barth – und zur Sozialmedizin.3

Nach Heidelberg zurückgekehrt wurde Siebeck 1918 zum außerordentlichen Professor ernannt. 1921 übernahm er die Leitung des versorgungsärztlichen Beobachtungskrankenhauses, bevor er 1924 einem Ruf nach Bonn folgte, wo er Direktor der Medizinischen Klinik wurde. 1931 kehrte er nach Heidelberg zurück, als Nachfolger seines Lehrers Ludolf von Krehl und als zeitweiliger Dekan. 1934 verließ er erneut Heidelberg, nunmehr um in Berlin als Direktor der I. Medizinischen Klinik der Charité und zeitweise auch hier als Dekan zu wirken. 1941 kehrte er neuerlich nach Heidelberg zurück. Bis zu seiner Emeritierung 1951 leitete er fortan die dortige Ludolf-Krehl-Klinik.

Ausgezeichnet war Siebeck mit dem Eisernen Kreuz II. Klasse, dem Ritterkreuz II. Klasse, dem Württembergischen Friedrichsorden mit Schwertern und dem Ehrenkreuz für Frontkämpfer. 1935 wurde er außerordentliches, 1939 ordentliches Mitglied des wissenschaftlichen Senats des Heeressanitätsdienstes. Seit dem 1. Oktober 1933 war er förderndes Mitglied der SS, zudem wurde er während der NS-Zeit Mitglied des NS-Ärztebundes, der NS-Studentenkampfhilfe und Mitarbeiter im Amt für Volksgesundheit der NSDAP. Parteimitglied war er seit dem 1. Mai 1937.4

Ganzheitliche Medizin

Richard Siebeck stand in der Tradition einer natur- und geisteswissenschaftliche Ansätze verbindenden, den Patienten als Menschen in seiner Ganzheit betrachtenden Medizin. Ähnlich wurde diese Richtung von Ludolf von Krehl, den Siebeck als „verehrten Lehrer und väterlichen Freund“ bezeichnete, und dem zweiten prominenten Krehl-Schüler Viktor von Weizsäcker vertreten.5 In der Weimarer Zeit trat Siebeck als Kliniker auf, der den Einfluss der Jugendbewegung an den Universitäten und deren liberale Züge wie auch den Studentensport zu würdigen wusste. Kritisch betrachtete er einen „Kultus des Ungeistigen und Kraftstrotzenden“ sowie das „Korporationswesen“, wo zu viel getrunken werde und es „an jedem sozialen Sinn und Gewissen gegenüber Mädchen von vermeintlich anderem Stande“ mangele, etwa einer „Verkäuferin oder Kellnerin“.6

1933 erhob Siebeck mit Ludolf von Krehl zunächst erfolgreich Einspruch, als im Heidelberger Kaiser-Wilhelm-Institut für Medizinische Forschung der „erste Serologe Deutschlands“ Hans Sachs aus antisemitischen Gründen beurlaubt wurde.7 Auch verantwortete er als Dekan der Medizinischen Fakultät Heidelberg eine Solidaritätsbekundung, in der es heißt: „Wir können nicht übersehen, dass das deutsche Judentum teilhat an den großen Leistungen der Wissenschaft und dass aus ihm große ärztliche Persönlichkeiten hervorgegangen sind. Gerade als Ärzte fühlen wir uns verpflichtet, innerhalb aller Erfordernisse von Volk und Staat den Standpunkt wahrer Menschlichkeit zu vertreten und unsere Bedenken geltend zu machen, wo die Gefahr droht, dass verantwortungsbewusste Gesinnung durch rein gefühlsmäßige oder triebhafte Gewalten verdrängt werde.“8

Opportunismus

Dass Siebeck dennoch förderndes Mitglied der SS und NSDAP-Parteigenosse wurde, deutet darauf hin, wie „uneinheitlich und voller verschiedener Grauschattierungen“ sein Verhältnis zum Nationalsozialismus war.9 Siebeck gehörte zu denjenigen, über die Freunde wegen seiner Mutlosigkeit enttäuscht waren.10 Deutlich wurde sein Bonner Nachfolger Paul Martini: „Die offenbaren Verlogenheiten[,] mit denen gegen die Juden gehetzt wurde, öffneten zwar nicht ganz wenigen die Augen; aber soweit sie sich schon in die Partei hatten aufnehmen lassen, fühlten sich fast alle schon so geknechtet oder waren es wirklich, daß sie kaum mehr in sich selbst frei zu denken wagten und andere hatten inzwischen gelernt, die Sorge für ihre eigene jämmerliche Existenz viel zu hoch zu setzten, als daß sie noch ein offenes Wort gewagt hätten, – nicht einmal alten Bekannten gegenüber, von denen sie wußten, daß sie die ‚Partei‘ noch schroffer ablehnten als sie selbst. Die bitterste Erfahrung war für mich (und auch für andere) das Verhalten von Richard Siebeck, eben deshalb weil wir ihn ganz besonders hoch schätzten. Es fing damit an, daß er Karl Barth, der ihm eng befreundete und damals schon berühmte evangelische Theologe, ganz im Gegensatz zu seinen bisherigen Gepflogenheiten bei einem Besuch in Bonn nicht mehr aufsuchte, als dieser den Beamteneid (1933) verweigert hatte, was ihm allerdings als Schweizer leichter fiel als uns allen. Rich. Siebeck war erst als Nachfolger L. Krehls Klinker in Heidelberg, dann nahm er einen Ruf an die Charité an, obwohl er seiner ganzen Weltanschauung nach den Nationalsozialismus ablehnen mußte, und lediglich mit seinem guten Namen in Berlin erst recht das falsche Aushängeschild für den Nationalsozialismus abgeben sollte. Nachdem er einige Jahre in Berlin war, erlebte er, wie die Partei seinen besten Schüler H. Marx aus der Charité hinausdrängte, weil dieser sich offen zur evangelisch ‚bekennenden Kirche‘ bekannte. Endlich begriff er, welcher Gesellschaft er sich angeschlossen hatte; daß er aus der Partei nicht mehr offiziell austrat, nahmen wir ihm nicht weiter übel, aber seitdem er mich bei einem gemeinsamen Frühstück im Hotel Rose bei unserem Wiesbadener Kongreß mit geradezu flehentlichen Blicken gebeten hatte, doch viel leiser zu sprechen, ging ich ihm aus dem Weg. Ich hoffe, daß auch ihm spätestens im Nov. 1938 die Augen aufgingen. Zu meiner Freude haben mir später Mediziner in den klinischen Semestern, die während des Krieges seine Vorlesungen hörten, gesagt, daß er für viele von ihnen eine Stütze gewesen sei, da er keinerlei Hehl aus seiner christlichen Einstellung gemacht habe.“11

Die Instrumentalisierung von Hellmuth Marx

Das DGIM-Mitglied Hellmuth Marx war Siebeck 1934 von Heidelberg nach Berlin gefolgt. Zwei Jahre zuvor hatte er sich als sein Schüler habilitiert. Wegen seiner NS-Gegnerschaft und als Mitglied des Bruderrats der Bekennenden Kirche musste Marx die Charité verlassen. 1937 wurde er Leiter der Inneren Abteilung der Westfälischen Diakonissenanstalt Sarepta in Bielefeld-Bethel. Seine Umhabilitierung nach Münster wurde ebenso abgelehnt wie zuvor seine Ernennung zum außerordentlichen Professor in Berlin. Zum Kriegsende galt er als Kandidat für den Freiburger Lehrstuhl für Innere Medizin. Marx starb jedoch im Juni 1945 an einer toxischen Diphterie. Für Siebecks Heidelberger Nachfolger Karl Matthes war er „der bekannteste und aussichtsreichste Schüler“ Siebecks, dieser selbst nannte ihn „der Allerbesten einer“.12 Matthes setzte sich 1962 zugunsten der Hinterbliebenen von Marx für dessen Anerkennung als Opfer nationalsozialistischer Verfolgung ein, wahrscheinlich vergeblich.13

Erstaunlich ist, dass Siebeck 1949 den vier Jahre zuvor verstorbenen Marx benutzte, um den bereits 1930 der NSDAP beigetretenen SS-Rottenführer Otto Heinrich Arnold, kein DGIM-Mitglied, zu entlasten. Siebeck behauptete, Arnold sei „sehr eng“ mit Marx „befreundet“ gewesen: „Wenn Arnold ein irgendwie gefährlicher Mann gewesen wäre, hätte Marx seine Freundschaft sicher abgelehnt.“14 Tatsächlich hatten Arnold und Marx Siebeck 1934 nach Berlin begleitet. 1943 kehrte er, wie zwei Jahre zuvor auch Siebeck, nach Heidelberg zurück.15

Von Berlin zurück nach Heidelberg

Die Einschätzung Siebecks durch die Beamten im Reichserziehungsministerium war höchst unterschiedlich. Der Referent für Hochschulmedizin und Arzt Werner Jansen bat im Juli 1936 „den Herrn Minister um seine grundsätzliche Zustimmung, auf dem selbstverständlich loyalsten Wege Herrn Siebeck nach Leipzig zu bringen“.16 Dort war am 1. Juli 1936 Paul Morawitz gestorben und in Berlin hatte man die „Auflösung der zweiten medizinischen Stelle der Universität“ in Angriff genommen, da der Neubau der Charité zu „ungeheuren hohen Kosten“ geführt hatte.17 Jansen bemerkte weiter: „An Siebeck verliert Berlin einen Mann, der höchstens Durchschnitt ist; aber da die anderen außer Bergmann und Volhard nicht besser sind, hat Leipzig immer noch durch Siebeck die bestmögliche Besetzung.“18 Zustande kam der Wechsel nicht, Siebeck blieb in Berlin und wurde Dekan. In dieser Funktion zeigte er eine gewisse Standhaftigkeit, wenn es um die Anerkennung von wissenschaftlich fragwürdigen Wehrmachtsangehörigen ging. Nachdem die Fakultät eine vorzeitige Ernennung des Oberstarztes Otto Muntsch zum außerordentlichen Professor „aus grundsätzlichen Erwägungen abgelehnt“ hatte, erklärte Siebeck gegenüber dem Wissenschaftsminister: „Es sollte vermieden werden, dass wissenschaftlich verdientere Dozenten, die nicht durch ihre Zugehörigkeit zum Heere gefördert werden, benachteiligt werden.“19 Muntsch wurde ein Jahr später, im November 1939, dann doch außerordentlicher Professor – nachdem er bereits nach Prag gewechselt war.20 Auch noch später riet Siebeck Kollegen zu rein wissenschaftlich begründeten Berufungen und führte „peinliche Verbeugungen vor anwesenden Zeitgrössen“ bei Vorträgen als Negativum an.21

Wohl 1941 war es dann Max de Crinis, der zumindest halböffentlich über Siebeck ganz anders als Jansen sprach. Der im Reicherziehungsministerium einflussreiche Direktor der Charité-Nervenklinik und SS-Hauptsturmführer erklärte dem Königsberger Internisten Ferdinand Hoff, der sich Hoffnungen auf einen Wechsel von Königsberg nach Heidelberg machte: „Professor Siebeck hier in Berlin möchte nach Heidelberg überwechseln, er ist ein so guter Mann, daß wir seinen Wunsch erfüllen werden.“22

Auslandsberichte für den NS-Staat

Siebeck nutzte die ihm gewährte Möglichkeit zu Auslandsreisen und bezahlte den Preis, mit politischen Stimmungsberichten dem Regime dienlich zu sein. Zumindest vordergründig waren diese Berichte nicht gegen bestimmte Personen gerichtet. Als während der Tage des Überfalls Deutschlands auf die Tschechoslowakei im März 1939 der 50. Gründungstag des Institutes Louis Pasteur gefeiert wurde, schrieb Siebeck unter anderem: „Wir meldeten uns zunächst bei der deutschen Botschaft in Paris, wo wir von Herrn Botschaftsrat Dr. Bräuer aufs Freundlichste empfangen und beraten wurden. Auch auf der Auslands-Organisation der NSDAP […] wurde uns grosses Entgegenkommen bewiesen. […] Die Stimmung in Paris war völlig ruhig, die Zeitungen schienen zunächst über die sich überstürzenden Ereignisse sprachlos. Am nächsten Tage kam eine gewisse Verärgerung zum Ausdruck, teils über die eigene Regierung, teils über die Engländer, die neue Divisionen zur Hilfe schicken wollten, wenn es zu spät sei. Im Ganzen schien die Stimmung gegenüber Deutschland ziemlich ruhig, dagegen ausserordentlich gereizt gegenüber Italien.“23

Als Leiter der deutschen Delegation, die auch aus den Professoren Laubenheimer (Frankfurt am Main), Peter Mühlens (Hamburg) und Hans Schlossberger (Berlin) bestand, gratulierte Siebeck voller nationenorientiertem Pathos, aber ohne antifranzösische Spitze: „Mit allen Nationen, die an unserer Kultur teilhaben, ehrt Deutschland bewundernd Louis Pasteur, einen der ganz Grossen im Reiche der Wissenschaft und zugleich einen echten und treuen Sohn des französischen Volkes. Auch die Wissenschaft erwächst auf dem Boden des Vaterlandes, aus im Volke verwurzelten Kräften, aber die grossen Genien strahlen weit über die Grenzen hinweg, ihre Arbeit wirkt in der ganzen Welt. Solch ein Grosser war Louis Pasteur. Er war mit Leib und Seele Franzose, aber was er schuf, trug reiche Frucht in allen Ländern, nicht zuletzt in Deutschland. […] So ehrt heute die deutsche Wissenschaft den verklärten Genius Louis Pasteur. Wir ehren nicht nur den grossen Mann der Wissenschaft, wir ehren ebenso den aufrechten und treuen Sohn seines Vaterlandes.“ Ein halbes Jahr vor Kriegsbeginn erinnerte Siebeck an das friedensstiftende Potential der Wissenschaft: „Jenner in England, Pasteur in Frankreich und Robert Koch in Deutschland – was der Eine schuf, ist ohne die anderen nicht zu denken, ein Sinnbild der gemeinsamen, friedlichen Arbeit unter den Völkern.“24

Siebecks Distanz zum Regime schrumpfte bisweilen auf ein kaum noch erkennendes Maß. 1943 rezensierte er in der „Wiener klinischen Wochenschrift“ die „Ärztliche Rechts- und Standeskunde“ des NS-Gesundheitspolitikers Rudolf Ramm als „vorzügliche Übersicht“, in der die Erwartungen der Nationalsozialisten an den „Arzt als Gesundheitserzieher“ und „Rassenpfleger“ dargelegt würden.25

Stärkung der Wissenschaft auf dem Kongress von 1937

Als Siebeck 1937 dem Wiesbadener Kongress der DGIM vorstand, war dessen nationalsozialistische Durchdringung Selbstverständlichkeit geworden. Siebeck kam freilich zu Gute, dass nach dem nicht zuletzt der Propagierung der „Neuen Deutschen Heilkunde“ dienenden Kongress von 1936 seitens der DGIM auf mehr wissenschaftliche Substanz gedrängt wurde und sich Berlin vergleichsweise zurückhielt. Es darf als Kritik am Vorjahreskongress und der Politisierung medizinischer Publikationen gewertet werden, wenn Siebeck während der Eröffnungsrede des Kongresses ausführte: „Wir wollen nicht mit Redensarten streiten, sondern mit echten Erkenntnissen. […] Es darf nicht sein, daß aus wissenschaftlichen Anstalten eine Unmenge von Arbeiten erscheint, in denen im Grunde kaum etwas von Belang steht, oder Mitteilungen, die keiner Nachprüfung standhalten und die sich in kurzer Frist als wertlos erweisen.“26

Für Ausländer freilich wirkte die Atmosphäre auch 1937 gespenstig. Willi Raab, damals Assistent von Hans Eppinger in Wien, erinnerte sich später: „Alles schien mehr denn je maschinenmäßig exakt zu klappen, selbst in die wissenschaftlichen Zusammenkünfte war ein militärischer Geist eingezogen. Die vor einem riesigen Hakenkreuz aufmarschierenden Redner ebenso wie die sich stramm erhebenden Zuhörer stießen nach Art der altrömischen Zirkuskämpfer den rechten Arm zum sogenannten ‚deutschen Gruß‘ in die Luft, der Führer des Reiches wurde sowohl wegen seiner staatsmännischen als insbesondere auch wegen seiner angeblichen medizinischen Verdienste hoch gepriesen, wobei wahrscheinlich seine Ablehnung des Salvarsans als einer ‚volksvergiftenden‘ jüdischen Hinterlist gemeint war – und schließlich brach alles auf Kommando in ein gewehrschussartig krachendes dreimaliges ‚Sieg Heil!‘ aus. Von der in der österreichischen Regierungspropaganda immer wieder erörterten Verelendung des deutschen Volkes war nichts zu bemerken, dagegen wirkten sowohl die aufdringlichen Beweihräucherungen aller Parteigrößen und -maßnahmen, die ängstliche Scheu der Menschen vor der Diskussion aktueller politischer Fragen, die Atmosphäre gegenseitigen Misstrauens und systematisch geschürter Gehässigkeit nicht nur gegen die Juden, sondern gegen alles, was vor 1933 in Deutschland Rang und Namen besessen hatte, bedrückend und unerquicklich.“27

Der nationalsozialistische Aktivismus an den Universitäten war Siebeck ein Graus. Dass die universitäre Lehre und Forschung Achtung durch den Staat erfahren müsse, es keine Parteiberufungen geben solle und der einzelne Wissenschaftler im wahrsten Wortsinne in Ruhe zu lassen sei, forderte er mit folgenden Worten: „Nur wenn die Universitäten ihre besondere Aufgabe im Volke wirklich erfüllen, wenn ihnen dann von allen maßgebenden Stellen die hohe Geltung, die ihnen gebührt, zuerkannt wird, und wenn immer dem Tüchtigen das Ziel winkt, nur dann kann der Beruf des Hochschullehrers und des Gelehrten wieder die Besten an sich ziehen. Wir müssen es offen bekennen, es erfüllt uns Sorge um unseren akademischen Nachwuchs. […] In dieser Lage muß noch etwas gesagt werden: ‚Es bildet das Talent sich in der Stille‘ – und dieser Stille ist unsere stürmische Zeit oft wenig günstig. Wir brauchen aber auch das Talent, den stillen Gelehrten, der vielleicht manchmal versonnen und doch in voller Hingabe seiner Arbeit lebt, denn auch sein Forschen ist Dienst am Volke und es ist unentbehrlich für unsere deutsche Zukunft.“28

Avancen gegenüber dem Regime

Auch Siebeck glaubte nicht, auf Avancen gegenüber dem Regime verzichten zu können. Er zitierte wie schon Schittenhelm 1933 Theodor Frerichs‘ 55 Jahre altes Wort von der auf „eigenem Grund und Boden“ stehenden „deutsche[n] Heilkunde“, die „nicht fremden Einflüssen und Eingebungen“ folge und „mindestens ebenbürtig derjenigen aller anderen Kulturvölker“ sei.29 Es gebe, so Siebeck, „keine Medizin an sich“, sondern unter anderem eine „der Griechen, der Araber, der Scholastik“: „Und es gibt und wird geben eine deutsche Medizin des neuen Aufbruches.“30 Die Zeiten „des sittlichen und politischen Verfalles“ waren für Siebeck nicht die Jahre seiner Gegenwart in der Diktatur, sondern die der Weimarer Republik.31 Er schloss seine Rede mit einem das Individualwohl nicht hintanstellenden Bekenntnis zum „vollen Einsatz für die Kranken und für die Volksgesundheit“, einem Treuegelöbnis auf den „Führer“ und dem „Sieg Heil“.32 Dass die Heilrufe diesmal vom Vorsitzenden initiiert wurden, lag an der Abwesenheit des Reichsärzteführers, der nach seinem Erscheinen in den beiden Vorjahren diesmal das eher konventionelle Thementableau des Kongresses langweilen mochte. Nicht Luftfahrtmedizin oder Rassenhygiene, sondern Rheumatismus, Diabetes und Schilddrüsenerkrankungen waren die Kongressschwerpunkte.

Siebeck ist zugute zu halten, dass er bei nachlassendem Druck aus Berlin die Möglichkeiten einer Rückkehr des DGIM-Kongresses zu einer strengeren Wissenschaftlichkeit genutzt hat. Dass gleichwohl naturheilkundliche Ansätze im Tagungsprogramm auftauchten, war den großen Worten zur Aussöhnung von „biologischer Medizin“ und Naturheilkunde im Jahr zuvor geschuldet. Der Kongress von 1937 wirkte für einen Beobachter aus dem Ausland wie Willi Raab durch sein nationalsozialistisches Gepränge abstoßend. Die an Forschung und Wissenschaft Interessierten aber konnten nach der Propaganda für die „Neue Deutsche Heilkunde“ im Vorjahr nun hoffen, dass ihren Erwartungen künftig wieder stärker entsprochen würde.

Nach 1945 hielt sich Siebeck mit öffentlichen politischen Erklärungen zurück. Obwohl er gerne über philosophische und im engeren Sinne medizingeschichtliche Fragen nachdachte, finden sich in seinem Opus magnum „Medizin in Bewegung. Klinische Erkenntnisse und ärztliche Aufgabe“ nur sehr versteckte Hinweise auf die Medizinverbrechen der NS-Zeit und den damit verbundenen Brüchen.33


Quellennachweise

Vgl. Silke Knappenberger-Jans, Siebeck, Paul, in: Neue Deutsche Biographie 24 (2010), S. 315–316 (www.deutsche-biographie.de).Vgl. Stefan Büttner, Siebeck, Richard, in: Neue Deutsche Biographie 24 (2010), S. 317–318 (www.deutsche-biographie.de).Vgl. Hartmut Baier, Richard Siebeck und Karl Barth - Medizin und Theologie im Gespräch. Die Bedeutung der theologischen Anthropologie in der Medizin Richard Siebecks (= Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie, 56), Göttingen 1988.Universitätsarchiv (UA) der Humboldt-Universität (UA) Berlin, UK Personalia 5, 98, Bd. I, Siebeck; vgl. Volker Roelcke, Richard Siebeck und die Medizin im Nationalsozialismus. Haltung und Handeln bis 1945 und in der Nachkriegszeit. Forschungsbericht, Gießen 2016, passim und Büttner, Siebeck.Richard Siebeck, Medizin in Bewegung. Klinische Erkenntnisse und ärztliche Aufgabe, 2. verbess. Aufl. Stuttgart 1953, S. IX.[Richard] Siebeck, Sexualethik, akademische Jugend und Hochschule, Bonn 1929 (= Bonner Akademische Reden, 4), S. 10.Siebeck zit. n. Wolfgang U. Eckart, Medizin in der NS-Diktatur. Ideologie, Praxis, Folge, Wien/Köln/Weimar 2012, S. 115; vgl. ebd., S. 112, S. 254 und S. 259; zu Sachs vgl. auch Werner E. Gerabek, Sachs, Hans, in: Neue Deutsche Biographie 22 (2005), S. 332.Zit. n. Eckart, Medizin in der NS-Diktatur, S. 113.Roelcke, Richard Siebeck, S. 54.Vgl. Eckart, Medizin in der NS-Diktatur, S. 113 f.Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin, Münster, Erinnerungen Paul Martini, Typoskript, S. 227 f.Matthes an Kultusministerium Stuttgart, 11.5.1962, zit. n. Axel W. Bauer, Innere Medizin, Neurologie und Dermatologie, in: Wolfgang U. Eckart/Volker Sellin/Eike Wolgast (Hg.), Die Universität Heidelberg im Nationalsozialismus, Heidelberg 2006, S. 719–810, S. 762; Richard Siebeck, Medizin in Bewegung. Klinische Erkenntnisse und ärztliche Aufgabe, 2., verbess. Aufl. Stuttgart 1953, S. IX.Vgl. Bauer, Innere Medizin, S. 762 ff.Zit. n. Bauer, Innere Medizin, S. 759.Vgl. Bauer, Innere Medizin, S. 756 f.Bundesarchiv (BA) Berlin, BDC Siebeck, Jansen/REM an Minister/REM, 23.7.1935, gez. Vahlen, 24.7.1935, gez. Zschintzsch, 24.7.1935.BA Berlin, BDC Siebeck, Jansen/REM an Minister/REM, 23.7.1935, gez. Vahlen, 24.7.1935, gez. Zschintzsch, 24.7.1935. Vgl. Ludolf von Krehl, Lebensbilder. Paul Morawitz +, in: Münchener Medizinische Wochenschrift, Nr. 34 (1936), S. 1397–1398.BA Berlin, BDC Siebeck, Jansen/REM an Minister/REM, 23.7.1935, gez. Vahlen, 24.7.1935, gez. Zschintzsch, 24.7.1935.HU Berlin, Archiv, UK Personalia, M 314, Bd. II, Otto Muntsch, Siebeck an Minister REM, 9.12.1938.HU Berlin, Archiv, UK Personalia, M 314, Bd. II, Otto Muntsch, Zschintzsch/REN an Rektor HU Berlin, 30.11.1939.Medizinische Universität Wien, Sammlungen und Geschichte der Medizin, Eppinger, Kongressunterlagen, MUW-AS-004424-0051, Siebeck an Eppinger, 25.6.1944; vgl. ausführlich unten zur verhinderten Berufung Risaks nach Wien.Zit. n. Ferdinand Hoff, Erlebnis und Besinnung. Erinnerungen eines Arztes, Berlin/Frankfurt/Wien 1971, S. 359; Hoff erklärt ebd., S. 9 seine Gesprächswiedergaben seien „nicht im Wortlaut authentisch, aber nach bestem Wissen sinngemäß richtig wiedergegeben“.HA Berlin, UA, UK Personalia 5, 98, Bd. I, Richard Siebeck, Siebeck an Minister REM über Rektor HU, 17.3.1939.HA Berlin, UA, UK Personalia 5, 98, Bd. II, Richard Siebeck, Siebeck an Präsident Institute Pasteur, 17.3.1939.Rudolf Ramm, Ärztliche Rechts- und Standeskunde. Der Arzt als Gesundheitserzieher, Berlin 1942, Titel und S. 130; Richard Siebeck, [Rezension zu Rudolf Ramm], in: Klinische Wochenschrift 22 (1943), S. 127; vgl. Risak, [Rezension zu Rudolf Ramm], S. 113. Vgl. Florian Bruns, Medizinethik im Nationalsozialismus. Entwicklungen und Protagonisten in Berlin 1939–1945, Stuttgart 2009 (= Geschichte und Philosophie der Medizin. Band 7), S. 88 ff. u. S. 126.R.[ichard] Siebeck, Eröffnungsrede, in: Verhandlungen 49 (1937), S. 1–8, S. 2.Willi Raab, Und neues Leben blüht aus den Ruinen. Stationen meines Lebens 1895–1939. Hrsgg. v. Ernst Holthaus und Ernst Piper, München 2009, S. 248.Siebeck, Eröffnungsrede, S. 8.Siebeck, Eröffnungsrede, S. 3.Siebeck, Eröffnungsrede, S. 2.Siebeck, Eröffnungsrede, S. 3.Siebeck, Eröffnungsrede, S. 8.Siebeck, Medizin.

Wir verwenden Cookies auf Ihrem Browser, um die Funktionalität unserer Webseite zu optimieren und den Besuchern personalisierte Werbung anbieten zu können. Bitte bestätigen Sie die Auswahl der Cookies um direkt zu der Webseite zu gelangen. Weitere Informationen finden Sie unter Datenschutz. Dort können Sie auch jederzeit Ihre Cookie-Einstellungen ändern.

Infos
Infos
Mehr Info