Ernst Wollheim wurde am 24. März 1900 im kurischen Libau (Liepaja/Lettland) als Sohn des Kaufmanns und Königlich Preußischen Handelsgerichtsrats Arthur Wollheim und dessen Frau Marie Levy geboren. 1922 heiratete er die zwei Jahre ältere Hedwig (Hedda) Kuhn. Beide gaben in der NS-Zeit an, „nichtarisch“ und katholisch zu sein.
Arzt in Berlin
Wollheim legte 1917 das Abitur am Friedrich-Werderschen Gymnasium in Berlin ab. Von Juni bis November 1918 leistete er Kriegsdienst. Anschließend studierte er in Berlin unter anderem bei Friedrich Kraus und nach Kraus‘ Emeritierung bei Gustav von Bergmann, zweitweise auch in Heidelberg und Freiburg. Nach Staatsexamen (1922) und Approbation (1923) wurde er 1924 promoviert. Von 1923 bis 1933 war er Assistent an der II. Medizinischen Universitätsklinik der Charité. Dort habilitierte er sich 1929.
In Berlin wohnte Wollheim mit seiner Familie zentral am Steinplatz und nahm Anteil am gesellschaftlichen Leben der zwanziger Jahre. Die jüdische Tradition seiner Familie spielte für ihn kaum noch eine Rolle. Mit Frau und Kindern konvertierte er zum Katholizismus und beteiligte sich am kirchlichen Leben der Berliner Diasporagemeinden, etwa an den Fronleichnamsprozessionen.1
Freundschaft zu Joseph Roth
Zu Wollheims Patientinnen zählte Friederike (Friedl) Roth, die Ehefrau des zu jener Zeit noch linksliberalen Journalisten und Schriftstellers Joseph Roth. Friedl Roth erkrankte 1926 psychisch und wurde 14 Jahre später im Rahmen der „Euthanasie“-Aktion T 4 in der Gaskammer der Tötungsanstalt Hartheim ermordet.2 Wollheim und Roth verband über mehrere Jahre eine Freundschaft. Auch nach Roths Emigration nach Paris traf man sich, so 1934 im Rapperswiler Hotel Schwanen.3 Wollheim hatte Roth das Haus empfohlen, in dem der Schriftsteller mehrere Wochen produktiv tätig war.4
Zuflucht im schwedischen Lund
1934 wechselte Wollheim auf eine ordentliche Professur an die Universität Lund (Schweden). Maßgeblich unterstützte ihn dabei das DGIM-Mitglied Sven Ingvar, der Direktor der Klinik für Innere Medizin in Lund. Ingvar, ursprünglich Neurologe, kannte Wollheim von Gastaufenthalten an der Charité in der Zeit vor 1933. Damals war Wollheim Ingvars Betreuer. 1935 wurde Wollheim in Berlin offiziell nach § 4 des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ wegen politischer Unzuverlässigkeit entlassen.5 Wenn schon der Chirurg Rudolf Nissen 1978 in seinen Erinnerungen schrieb, Gustav von Bergmann sei „stumm“ geblieben, „als seine ‚nichtarischen‘ Assistenten die Klinik verlassen mussten“, so wird man heute noch kritischer sagen müssen, dass er aktiv an der Vertreibung beteiligt war.6
In Lund aber fand Wollheim weiter Unterstützung. Von 1937 bis 1942 leitete er das Laboratorium für Kreislaufforschung, dann nahm er einen Lehrauftrag am Pharmakologischen Institut für Pathophysiologie an. Gleichwohl sah er seine Zeit in Lund wohl von Anfang an als vorübergehendes Exil an. In der Familie wurde Deutsch gesprochen. Verbindungen nach Deutschland wie zu anderen Emigranten erhielt man aufrecht. So bestand Kontakt zu Siegfried Thannhauser in Boston und dem Göttinger Physiologen Hermann Rein, den er für seine Forschungen auf dem Gebiet der Physiologie des Herzmuskels bewunderte. Ein Foto Reins, der trotz einer frühen Unterstützungsunterschrift für Hitler, einer Fördermitgliedschaft in der SS und seiner luftfahrtmedizinischen Arbeiten zugunsten der Luftwaffe als NS-kritisch galt, stand auf Wollheims Schreibtisch. Wenigstens einmal hat Rein Wollheim in Lund besucht.7
Deutschlandreise im Krieg
In dieses Bild passt, dass Ernst Wollheim keine Scheu hatte, auch von Lund aus durch Deutschland zu reisen. Die dafür notwendigen Papiere erhielt er über einen befreundeten Diplomaten in der deutschen Botschaft ohne größere Probleme. Auf dem Rückweg vom Urlaub in der Schweiz machte er stets in Berlin Station. Im Juni 1941, bei seinem letzten Deutschland- und Berlinbesuch in der NS-Zeit, erlebte er einen frühen Fliegerangriff auf Berlin, zugleich die Reaktionen auf den deutschen Überfall auf die Sowjetunion mit. Unter erschwerten Bedingungen – die Verkehrsverbindungen nach Schweden waren zeitweilig unterbrochen – kehrte er nach Lund zurück.8 Dort berichtete er seinen ungläubigen Kollegen von seinen Eindrücken und war sich sicher: „Der Krieg ist jetzt verloren!“9
Nicht nur der Urlaub verband Wollheim mit der Schweiz: Für Ciba in Basel hatte er gemeinsam mit Kurt Lange, später Professor für Pädiatrie am New Yorker Medical College, ein Medikament gegen Hypertonie entwickelt.10 Die Erträge des Patents kamen der Familie auch in Lund zugute.11
Ablehnung des Rufs nach Berlin
Bald nach dem Ende der NS-Zeit erhielt Ernst Wollheim einen Ruf auf den Lehrstuhl für Innere Medizin an der Charité in der Nachfolge von Gustav von Bergmann. Vom schwedischen Konsulat mit einem „Multiple-Entry-Visum“ ausgestattet, konnte sich Wollheim frei durch alle Besatzungszonen der Stadt bewegen. Die Stadt war angesichts der Zerstörungen kaum wieder zu erkennen. Wollheim zeigte sich „erschüttert“.12 Dass er den Ruf nach Berlin nicht annahm, hatte freilich einen anderen Grund. Von dem früheren DGIM-Ausschussmitglied und späteren Vizepräsidenten des Kulturbunds der DDR, Theodor Brugsch, wurde er unfreundlich empfangen. Er empfand es als beleidigend, dass Brugsch ihn seine vermeintlich neue Arbeitsstätte „nur mit der jüngsten Assistenzärztin der Klinik besichtigen ließ“.13
Das Konglomerat aus „schweren Erinnerungen“, emotionaler Entfremdung sowie politischen und bürokratischen Schwierigkeiten führte dazu, dass Wollheim zunächst in Lund blieb.14
Ordinarius in Würzburg
Am 11. August 1948 wurde Wollheim zum Professor ernannt. Noch im selben Monat beendete er sein Dienstverhältnis in Lund und wurde Ordinarius und Klinikdirektor in Würzburg.15 Der dortige Dekan Hans Rheinfelder hatte im März 1948 vorsichtig bei Wollheim angefragt, ob er „grundsätzlich bereit und in der Lage“ sei, die Innere Medizin an der Universität Würzburg zu übernehmen.16 Er wurde zu einem hochangesehenen einflussreichen Arzt und Forscher, der die entstehende Kardiologie ebenso prägte, wie er die Chancen der Computertechnik für die Medizin erkannte.17
Wollheim übernahm zahlreiche Aufgaben und Ämter, u.a. das des Vorsitzenden der Deutschen Gesellschaft für Kreislaufforschung (1950/51) und das eines WHO-Beraters für sein Fachgebiet (1955). 1964 übernahm er in Würzburg zusätzlich die Position des Direktors der Universitätskliniken im Luitpold-Krankenhaus.
Aktive Berufungspolitik
Wollheim griff aktiv in die Würzburger Berufungspolitik ein. Er verhinderte, dass der „Anatom der Milz“, Robert Herrlinger, eine außerplanmäßige anatomische Professur erhielt. Herrlinger hatte „1943/44 direkt neben der Guillotine des Posener Gestapogefängnisses“ gestanden und Experimente „an noch pulsierenden geköpften Toten“ unternommen.18 Herrlinger wich in die Medizingeschichte aus und wurde für dieses Fach zunächst außerplanmäßiger (1958), dann außerordentlicher (1960) Professor.19 Auch gegen die Berufung von Ferdinand Hoff erhob Wollheim Einspruch,20 nicht hingegen gegen das DGIM-Mitglied Hans Franke, den Wollheim 1948 als Oberarzt einstellte.21 1948 schlug Wollheim Franke zum außerplanmäßigen Professor vor.22 1954 befürwortete er Frankes Berufung auf den außerordentlichen „Lehrstuhl für Medizinische Poliklinik“, 1956 dessen Umwandlung in ein ordentliches Ordinariat.23 Dabei hatte auch Franke, am 27. Oktober 1911 im oberschlesischen Königshütte geboren, eine braune Vergangenheit. Er gehörte der SA an und bemühte sich um Aufnahme in die NSDAP.24 Zu seinen ersten wissenschaftlichen Etappen gehörten Stellen bei Kurt Gutzeit in Breslau und Wilhelm Parade in Innsbruck.25 In einem Gelsenkirchener Spruchkammerverfahren wurde Franke „entnazifiziert“ (Gruppe V).26
Gegen rechte Burschenschaftler und linke Achtundsechziger
1961/62 war Wollheim Dekan, 1963/64 Rektor. Dabei fand seine Distanz zu Burschenschaften bundesweit Beachtung. „Der Spiegel“ berichtete, er sei „einem Kommers aller Studenten-Verbindungen zum 382. Stiftungsfest der Hochschule“ ferngeblieben, „nachdem die Burschenschaften ihn vor die Wahl gestellt hatten, entweder das Absingen der ersten Strophe des Deutschlandliedes zu akzeptieren oder vor Beginn der Veranstaltung erklären zu lassen, der Hymnengesang unterbleibe auf seinen Wunsch“.27
Doch auch liberale Studierende standen Wollheim, einst Stipendiat der Rockefeller-Stiftung, skeptisch gegenüber. Ihnen galt er „als Vertreter einer fossilen Ordinariatsgesellschaft“, der „an seiner Klinik einen ausgesprochen autoritären Führungsstil prägte“, „der weniger durch Vorbildeigenschaften als durch die Machtmittel der Unterdrückung und Angst definiert war“.28
Im September 1962 stand er als Präsident dem Kongress der Internationalen Gesellschaft für Innere Medizin in München vor. Sein „Wiedergutmachungsverfahren“ war zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgeschlossen. Im Januar 1965 erhielt er schließlich Nachricht, dass die Zeit seiner Vertreibung von 1933 bis 1948 als Dienstzeit im Sinne des Besoldungs- und Versorgungsrechts anerkannt werde.29 Für die DGIM blieb Wollheim bis ins Alter aktiv. 1970 wurde er, 70 Jahre alt, als Delegierter der Gesellschaft zum Internationalen Kongress für Innere Medizin nach New Delhi entsandt.30
Am 31. März 1968 wurde er emeritiert, 1971 Ehrenmitglied der DGIM. Am 13. August 1976 starb Wollheims Frau Hedda, er selbst am 2. August 1981.31
Einziger zurückgekehrter Internist
Wollheim ist der einzige emigrierte Internist, der nach 1945 in der Bundesrepublik einen Lehrstuhl übernahm. In der Rückschau erinnerte sich Kurt Kochsiek, Träger der Gustav-von-Bergmann-Medaille des Jahres 2010: „Wir Jüngeren haben uns in den 50-er Jahren gefragt, warum offensichtlich kaum versucht worden ist, wenigstens einige der vertriebenen Professoren zurückzuberufen. Von den Internisten ist lediglich mein Vor-Vorgänger auf dem Würzburger Lehrstuhl 1933, Professor Dr. Ernst Wollheim, aus Schweden zurückberufen worden. Er wurde bereits 1933, wenige Wochen nach der Machtübernahme, als junger Privatdozent der Charité von Professor Dr. Gustav von Bergmann entlassen.“32