Walter Seitz ist eines der wenigen klar dem Widerstand gegen das NS-Regime zuzuordnenden Mitglieder der DGIM. 1933 war er an seinen früheren Studienort Berlin zurückgekehrt, nachdem er in München sein Examen bestanden hatte. Er wusste, dass man an der Charité vergleichsweise leicht eine Anstellung finden konnte. In späteren Erinnerungen schreibt Seitz: „Ich kam am 1. April 1933 nach Berlin zurück, um eine Stelle als Arzt in der Charité anzutreten. […] Die Berliner Charité suchte Ärzte, weil jüdischen Kollegen gekündigt worden war. In meinem Freundeskreis hatte man mir schwere Vorwürfe gemacht: ‚Du übernimmst diese Stellung?‘ Aber es war noch die Zeit der Arbeitslosigkeit und ich mußte mich schnell entscheiden.“1
1939 wechselte Seitz von der Charité zum Pharmaunternehmen Schering, in dessen Forschungsabteilung er sich vergleichsweise sicher wähnte. Seitz erinnert sich: „Ich arbeitete in einer medizinisch-wissenschaftlichen Abteilung, wo nur Anti-Nazis saßen. Sie waren alle irgendwo rausgeflogen, mußten sich schützen, einer war früher bei der KPD, einer hatte eine jüdische Großmutter, alle hatten einen ‚Webfehler‘. Es war eine Insel. Dafür sorgte der betreffende Abteilungsleiter.“2 Dieser Abteilungsleiter war Emil von Behrings Sohn Hans.3
Im Retterwiderstand
Aus dieser Position verstärkte Seitz seine gegen das NS-Regime gerichteten Aktivitäten. 1940 gründete der Dirigent Leo Borchard einen Widerstandskreis, der nach Seitz‘ Decknamen „Onkel Emil“ genannt wurde. In Kontakt stand Seitz dabei unter anderem mit Leo Borchard, dem Arzt und Sohn Gustav von Bergmanns Fritz von Bergmann, der Journalistin Ruth Friedrich und dem kommunistischen Arzt Wolfgang Kühn, der sich zeitweilig den jugoslawischen Partisanen zur Verfügung stellte. Das Kontaktnetz umfasste auch andere Personen aus dem gehobenen Berliner Bürgertum. Zu ihren Aktionen zählte die Verbreitung des letzten Flugblatts der Weißen Rose in Berlin und dessen Weiterleitung nach Schweden und Großbritannien.4 Konkret geholfen wurde einigen der über 21 000 Berliner Jüdinnen und Juden, die in der Rüstungsindustrie zwangsweise arbeiten mussten und bis Anfang 1942 in privaten Wohnungen lebten. Seitz stellte für diese Menschen Atteste aus, die sie vorsorglich mit sich trugen, um sich im Ernstfall als krank und transportunfähig ausweisen zu können.5
Insgesamt sechs Ärzte aus diesem Umfeld verbanden sich 1943, um spezielle medizinische Hilfe zu organisieren. Diese Gruppe, zu der wiederum Walter Seitz gehörte, nannte sich „Freies Deutschland“ und war über das Paul-Gerhardt-Stift im Wedding zu erreichen. Medikamente für Verfolgte wurden besorgt, Atteste ausgestellt, Ausweispapiere gefälscht.6
Zwischenzeitlich war Walter Seitz 1941 als Oberarzt am Augusta-Hospital und Leiter der dortigen Röntgenabteilung angestellt worden. Zeitweilig war er in einem schlesischen Ausweichkrankenhaus tätig.
Im Untergrund
1944 wurde Seitz denunziert, nachdem er in Berlin neuerlich Zwangsarbeiter wider besseres Wissen krankgeschrieben hatte. Er tauchte unter und hielt sich fortan illegal in Berlin auf. Belegt ist aus dieser Zeit, dass Seitz einen niederländischen Pass für Ralph Neumann, einen geflohenen Juden, besorgte und durch einen Einbruch an weitere behördliche Papiere kam. Mit diesen konnten Verfolgte als „Fliegergeschädigte“ ausgegeben und Lebensmittelmarken besorgt werden.7
Klinikdirektor in München
Walter Seitz, der 1997 im Alter von 91 Jahren starb, wurde 1947 Direktor der Medizinischen Poliklinik der Universität München, die er bis 1973 leitete. Sein gegen den Nationalsozialismus gerichtetes Verhalten war in München bekannt, zumal auch Gustav von Bergmann von der Spree an die Isar gewechselt war.8 Er blieb politisch engagiert und war von 1950 bis 1954 Landtagsabgeordneter der SPD in Bayern.9 Die DGIM ernannte ihn 1985 zum Ehrenmitglied.
Seitz trat als Klinikdirektor eher untypisch auf, war ein „einmaliger Chef“, der in besonderer Weise auf eine gute Patientenversorgung und eine angemessene Mitarbeiterausbildung achtete.10 Selbst wissenschaftlich wenig ambitioniert und alles andere als ein „Ellenbogenmensch“ ließ er seinen Schülern große Freiheiten.11 Wichtig erschien Seitz die Integration psychotherapeutischer Ansätze in der Poliklinik. Er setzte durch, dass eine psychosomatische Beratungsstelle eingerichtet wurde.12 Deren Leitung übernahm der später nach Freiburg gewechselte Johannes Cremerius, der – zum Erstaunen von Mitarbeitern in der Seitzschen Klinik – nahezu sämtliche Erkrankungen bis hin zum Diabetes psychosomatisch zu erklären wusste.13 Unkonventionell war auch die Einstellung von Hellmut Mehnert in Seitz‘ Klinik. Ohne je Oberarzt gewesen zu sein, wurde Mehnert, der spätere DGIM-Vorsitzende, sofort zum Chefarzt ernannt.14