Georg Schaltenbrand wuchs in Oberhausen und Oberschlesien auf. Sein mit Adele Pastor verheirateter Vater Eugen war Vorstandsmitglied der Gutehoffnungshütte in Oberhausen und Vorsitzender des Stahlwerk-Verbandes in Düsseldorf. Georg Schaltenbrand erhielt die Hochschulreife 1916 in der Oberrealschule Kattowitz. 1923 wurde er nach einem Studium in Breslau, Göttingen, München und Hamburg zum Dr. med. promoviert. Der Titel seiner von Emil Kraepelin betreuten Hamburger Dissertation lautet: „Untersuchungen über Parkinsonismus und Hyoscinwirkung“. Schaltenbrand bildete sich in den USA weiter, so 1927/28 bei dem Neurochirurgen Harvey Cushing in Boston (Rockefeller Foundation). 1928 kehrte er nach Hamburg zurück. Hier heiratete er noch im selben Jahr Luise „Lu“ Kleinwort und habilitierte sich mit einer Studie über menschliche Motorik. Anschließend wurde er Associate Professor für Neurologie an der Rockefeller-Hochschule in Beijing. 1930 kehrte er nach Deutschland zurück, als Oberarzt zu Max Nonne an die Neurologische Klinik in Hamburg-Eppendorf. Nach Nonnes Emeritierung 1934 leitete er die Klinik kommissarisch, wechselte dann aber 1935 als Assistenzarzt nach Würzburg, wo er an der Inneren und Nervenklinik die Neurologische Abteilung aufbaute. Als 1937/38 das Ordinariat für Neurologie begründet wurde, besetzte er dieses und wurde bald darauf zum Direktor der Neurologischen Klinik ernannt. Die Klinik leitete er mit einer fünfjährigen Unterbrechung nach dem Ende der NS-Zeit noch nach seiner Emeritierung (1966) bis 1968.1
Pro Hitler
Schaltenbrand trat 1933 dem demokratiefeindlichen „Stahlhelm“ bei und unterzeichnete das „Bekenntnis der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat“ vom 9. November 1933. Er war Mitglied der NSDAP (1.5.1937, Nr. 4850745). In die SA wurde er als Stahlhelmmitglied überführt, verließ sie aber 1936 wegen seiner beruflichen Belastung.2 Zudem gehörte er der Reichsschaft Hochschullehrer (1.10.1933), dem NSD Ärztebund (1938, Nr. 24542), der NS Volkswohlfahrt und als Obersturmführer dem NS-Fliegerkorps an.
Übertragungen von Liquor zwischen Menschen und Affen
Schaltenbrand war zeit seines Lebens der Meinung, die Multiple Sklerose sei eine Infektionskrankheit. Damit widersprach er der von Friedrich Curtius vertretenen – und im Nationalsozialismus für die Betroffenen gefährlicheren – Auffassung von einer Erbkrankheit.3 1940 entnahm er im Rahmen eines von der DFG geförderten Forschungsprojekts MS-Kranken Liquor cerebrospinalis (Gehirn-Rückenmark-Flüssigkeit), den er auf Affen übertrug.4 Nach einiger Zeit entnahm er den Affen ihren Liquor und injizierte ihn etwa 35 Patienten der Psychiatrischen Klinik Werneck (Landkreis Schweinfurt) und etwa 20 schwerstkranken Patienten seiner eigenen Klinik.5 Michael Martin et al. fassen das „Schaltenbrand-Experiment“ folgendermaßen zusammen: „Den Schwerpunkt der Versuchsreihe bildete die Überimpfung vermeintlich infektiösen Tierliquors (13 Einzelversuche) und nach Schaltenbrands Überzeugung ansteckender humaner Zerebrospinalflüssigkeit (10 Versuche), jeweils mit zisternaler Applikation; nach rund sechs Wochen sowie nach drei Monaten erfolgten Kontrollpunktionen. Mithin ging er in mindestens 23 Fällen davon aus, eine Multiple Sklerose mit humoralen Konsequenzen (er hoffte allerdings auch auf morphologische Folgeerscheinungen) auf die ihm anvertrauten Patienten übertragen zu haben. Schaltenbrand selbst sah durch die Versuchsreihe seine Infektionshypothese der MS vollauf bestätigt“.6
Die ethische Problematik seines Versuchs, bei dem zwei Schwerkranke starben, war Schaltenbrand durchaus bewusst. Zu seiner Vorgehensweise schrieb er: „Trotzdem kann man natürlich nicht einem gesunden Menschen oder auch einem kranken einen derartigen Versuch zumuten. Ich glaube aber doch, die Verantwortung tragen zu können, derartige Versuche an Menschen zu machen, die an einer unheilbaren vollkommenen Verblödung leiden.“7
Amtsenthebung und Rehabilitierung
1945 wurde Schaltenbrand wegen dieses Humanexperiments abgesetzt, aber 1950 nicht zuletzt aufgrund eines Obergutachtens des früheren DGIM-Ausschuss-Mitglieds Viktor von Weizsäcker formal rehabilitiert.
Im Entnazifizierungsverfahren konnte Schaltenbrand von Anfang an milde Urteile erreichen. Der Einstufung als Mitläufer (Kategorie IV) folgte nach einem Einspruch die völlige Entlastung (Kategorie V). Schaltenbrand legte Papiere vor, die Intrigen seines Würzburger Kollegen Werner Heyde, des Leiters der Medizinischen Abteilung der Berliner „Euthanasie“-Zentrale, gegen ihn bewiesen. Auch von Verbindungen zum militärischen Widerstand war die Rede.8 In der Bundesrepublik betätigte sich Schaltenbrand politisch links von der Mitte. Er nahm an Demonstrationen gegen die „Wiederbewaffnung“ teil und unterzeichnete 1966 eine Deklaration gegen die Notstandsgesetze.9
1976 Ehrenmitglied der DGIM
Die Multiple Sklerose und die Funktionsweise des Gehirns standen auch nach 1945 im Mittelpunkt seiner Forschungen, die 1959 in seinen „Gehirnatlas“ mündeten. Schon 1928 hatte er den Martini-Preis der Universität Hamburg erhalten. Es folgten der Röntgen-Preis der Universität Würzburg (1943), die Wilhelm-Erb-Gedenkmünze (1954), die Max-Nonne-Gedenkmünze (1966), die Rinecker-Medaille der Medizinischen Fakultät Würzburg (1977). Er war Mitglied der Leopoldina (1941), der Schweizerischen Neurologischen Gesellschaft (1955), der American Neurological Association (1955) und der American Acadamy of Neurology (1955). 1953/54 war er Vorsitzender und seit 1967 Ehrenvorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Neurologie. Auch bei der Multiple-Sklerose-Gesellschaft wurde er 1967 Ehrenvorsitzender. Die DGIM ernannte ihn 1976 zu ihrem Ehrenmitglied. Diese Ehrenmitgliedschaft wurde ihm 2021 wieder aberkannt.
Eine Schaltenbrand ehrende Büste im Universitätsklinikum Würzburg wurde 1996 entfernt und befindet sich seit 1999 in Familienbesitz. Zuvor war sein Wirken in dem auf den Forschungen Ernst Klees basierenden Film „Ärzte ohne Gewissen“ thematisiert worden.10 Mochte Schaltenbrand auch in seiner Familie das Bild vom „Nazi-Gegner“ gepflegt haben, in Erinnerung werden seine unethischen Humanexperimente bleiben.11