Gedenken
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Widerstand

Julius Bauer

geb. am 14.08.1887 in Nachod/Böhmen
gest. am 08.05.1979 in Beverly Hills

Mitglied der DGIM 1921 bis 1935

Der Wiener Julius Bauer, Chefarzt (Primar) an der Wiener Poliklinik, galt als Experte auf dem Feld der Vererbungslehre. In Böhmen geboren, kam er 1905 nach Wien. Dort und in Paris studierte er. 1910 wurde er in Wien promoviert und wechselte für vier Jahre nach Innsbruck. Zurückgekehrt verfasste er seine Habilitationsschrift „Konstitutionelle Disposition zu Inneren Krankheiten“. 1910 wurde er Privatdozent, 1926 außerordentlicher Professor, 1928 Primararzt.1

Wissenschaftliche Kritik an NS-„Rassenhygiene“

Bauer vertrat die Wiener Medizinische Fakultät auf Wunsch ihres Dekans oft international, so auf dem italienischen Internistenkongress 1934.2 Im einschlägigen NS-Handbuch „Zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ fanden seine Forschungen Berücksichtigung.3 Bald wurde er als Jude verfolgt und musste 1938 fliehen.4 Zuvor hatte er der nationalsozialistischen Interpretation der Erbforschung offensiv widersprochen. Besonders deutlich wurde Bauer in der Schweizer Medizinischen Wochenschrift, in der er sich gegen den Missbrauch wissenschaftlicher Termini als „politische Schlagworte“ wandte, letztlich die gesamte NS-Rassenhygiene – wie schon in einem Beitrag in der Wiener Medizinischen Wochenschrift ein Jahr zuvor – verwarf.5 Irrtümer und Widersprüchlichkeiten von Vertretern der NS-„Rassenhygiene“ wie Hans Günther und Otmar von Verschuer wurden offen gelegt. Bauers politische Positionierung war ebenso eindeutig: „Wenn der anerkannte juristische Fachmann Ebermayer 1913 noch schreiben konnte: ‚Zwangsweise Sterilisation möge aber dem deutschen Strafgesetz einstweilen noch ferne bleiben, für diese Maßregel ist m.E. das deutsche Empfinden – ich möchte wohl sagen: glücklicherweise – noch nicht reif‘, so zeigt die heutige Sachlage in Deutschland, wie sehr sich das deutsche Empfinden – ich möchte sagen: unglücklicherweise – geändert hat.“6 Bauer warnte „eindringlich davor […], Wissenschaft und Politik zu vermengen, das verstandesmäßige Suchen nach der reinen Wahrheit durch politische Gefühlsmomente beeinflussen zu lassen“: „Die Wissenschaft und damit die Wahrheit kann niemals national, sie kann immer nur international menschheitsgebunden und damit immer nur unpolitisch sein“.7

Gezielte Kampagne gegen Bauer

Der Artikel hatte Folgen. In den deutschen medizinischen Zeitschriften erschien ein Aufruf von Reichsärzteführer Gerhard Wagner, in dem neben Bauer Alfred Gigon als Hauptschriftleiter der Schweizer Medizinischen Wochenschrift heftig attackiert wurde. Da Bauer 1935 als Referent zur „Internationalen Medizinischen Woche in der Schweiz“, die in Montreux stattfinden sollte, geladen war, rief Wagner zugleich zum Boykott dieser Veranstaltung auf. Es sei „jedem deutschen Arzte, der sich der Würde seines Landes bewußt ist, selbstverständlich unmöglich, an der Montreux-Woche teilzunehmen“. Genüsslich bemerkte Wagner, „selbst Schweizer Gelehrte“ hätten „Einspruch erhoben und ihre Teilnahme an der Montreux-Woche als ganz ausgeschlossen erklärt, nachdem der Veranstalter, Professor Gigon, Redakteur der ‚Schweizerischen Medizinischen Wochenschrift‘, einen ganz gemeinen politischen Hetzartikel gegen Deutschland aus der Feder des Wiener Juden an die Spitze seines Blattes aufgenommen“ habe.8

Bemerkenswert ist, dass Alfred Gigon acht Jahre später auf Vorschlag von Alfred Schittenhelm in die Leopoldina aufgenommen worden ist.9

Ausschluss durch die DGIM

Bauer wurde nach Wagners Attacke von den Schweizer Verantwortlichen ausgeladen, sein Vortrag unter der falschen Anmerkung „Herr Prof. Bauer war verhindert, den Vortrag zu halten“ in der Schweizer Medizinischen Wochenschrift 1936 jedoch abgedruckt. Richtig wäre die Anmerkung gewesen, Bauer „wurde“ verhindert, wie er selbst in seiner 1964 erschienenen Autobiographie anmerkte.10 Die DGIM folgte widerspruchslos der Propaganda der Nationalsozialisten. Sie schloss Bauer aus ihren Reihen aus. Er hatte zuletzt gleichsam als österreichischer Vertreter in ihrem Ausschuss gesessen. Das Ausschlussdokument trägt die Unterschrift von Alfred Schwenkenbecher. Zur Eröffnung der Ausschusssitzung am 12. April 1936 erklärte Schwenkenbecher den Hinauswurf des Kollegen damit, dass „dieser in der Schweizerischen medizinischen Wochenschrift einen Artikel veröffentlicht hat, an dem die Deutsche Ärzteschaft Anstoss genommen hat“.11

Flucht in die USA

Nach der Eingliederung Österreichs an das Deutsche Reich 1938 floh der nun von der Universität Wien entlassene Bauer über Frankreich in die USA. Er konnte Professuren an der Louisiana State University (New Orleans), der kalifornischen Loma Linda University und an der University of Southern California in Los Angeles übernehmen. 1979 starb er im Alter von 91 Jahren in Beverly Hills.12 Julius Bauer hatte getan, was der DGIM hätte zur Ehre gereichen können. Zum richtigen Zeitpunkt wusste er die angemessenen Worte zu formulieren, um die Unmenschlichkeit sowie die unzureichende wissenschaftliche Fundierung der NS-Gesetzgebung zur Zwangssterilisierung zu entlarven. Die DGIM aber stellte sich nicht vor sein klar und frei denkendes Mitglied, sondern folgte Reichsärzteführer Wagner und der Propagandamaschinerie der Diktatur.


Quellennachweise

Universitätsarchiv Wien, MF, Gz. 178-26/27, 8-11-162, Bundesminister für Unterricht an Dekanat, 6.11.1926 (Ernennung ao. Universitätsprofessor); ebd., Gz. 1418-25/26, Dekan an Bundesminister für Unterricht, 17.6.1926, Vorschlag zur Ernennung zu ao. Professor); ebd., MED PA 30 (Personalakte); vgl. auch Karl Heinz Tragl, Chronik der Wiener Krankenanstalten, Wien/Köln/Weimar 2007, S. 293 und Werner Schuder (Hg.), Kürschners Deutscher Gelehrten Kalender, 13. Ausgabe Berlin/New York 1980, S. 151 f. Vgl. zudem gedenkbuch.univie.ac.at, einges. 17.12.2019.Universitätsarchiv Wien, Dekanat MF, Gz. 69 a, Julius Bauer an Dekan, 4.10.1934; vgl. zu weiteren internationalen Kontakten: ebd., Gz. 1252, Julius , Bauer an Dekan MF, 15.6.1932 (Einladung zur Harvey Lecture New York); ebd., Gz. 1197, Julius Bauer an Dekan MF6.5.1930 (Reise Madrid)  Vgl. Julius Bauer, Medizinische Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts im Rahmen einer Autobiographie, Wien 1964, S. 73 f. – Anders als Bauer nahelegt, wurde er auch noch in der Zweitauflage zitiert; sein Name erscheint zudem im „Schrifttumsverzeichnis“ der zweiten Auflage. Vgl. Arthur Gütt/Ernst Rüdin/Falk Ruttke (Bearb.), Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933 nebst Ausführungsverordnungen, 2. neubearb. Aufl., München 1936, S. 163, 380, 392, 394. Vgl. die Erstauflage Arthur Gütt/Ernst Rüdin/Falk Ruttke (Bearb.), Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933 mit Auszug aus dem Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln zur Sicherung und Besserung vom 24. Nov. 1933, München 1934, S. 249, 258, 261.Vgl. neben Bauers Autobiographie (Bauer, Kulturgeschichte) auch Judith Bauer-Merinsky, Die Auswirkungen der Annexion Österreichs durch das Deutsche Reich auf die medizinische Fakultät der Universität Wien im Jahre 1938. Biographien entlassener Professoren und Dozenten, Diss. Wien 1980, S. 14–16 b (Digitalisat unter ub.meduniwien.ac.at).Bauer, Kulturgeschichte, S. 75.Bauer, Schlagworte, S. 633.Vgl. Bauer, Schlagworte, S. 635[Gerhard] Wagner, Bekanntmachung, in: Klinische Wochenschrift 14 (1935), Nr. 36, 7.9.1935, S. 1304; vgl. Bauer, Kulturgeschichte, S. 75.Leopoldina-Archiv Halle, M 1, MNr. 4710 Gigon.Bauer, Kulturgeschichte, S. 75.DGIM Wiesbaden, Protokollbuch der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin, 1931-1938, Erste Ausschusssitzung, 19.4.1936.UA Wien, MF, MED PA 30; vgl. auch Tragl, Chronik, S. 293; Schuder, Kürschners 1980, S. 151f.

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