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Hans Dietlen

geb. am 13.02.1879 in Holzkirchen bei Nördlingen
gest. am 13.01.1955

Mitglied der DGIM 1912 bis 1955

Mit Hans Dietlen stand 1940 einer der wenigen Internisten an der Spitze der DGIM, die sich der Zwangssterilisierungspolitik der Nationalsozialisten zur Verfügung gestellt hatten. Zugleich war er im Krieg eine Symbolfigur, weil er aus dem 1935 „zurückgewonnenen“ Saarland stammte. 1938 trat er der NSDAP bei (Nr. 6920391). Zudem war er Mitglied im NSD Ärztebund.

Hans Dietlen hatte 1897 am humanistischen Gymnasium St. Anna in Augsburg die Hochschulreife erlangt.1 1899 bestand er das Physikum in Erlangen, 1902 folgten Approbation und Promotion in München. Von 1904 bis 1913 war er an den Medizinischen Kliniken in Greifswald, Gießen und Straßburg tätig. 1909 habilitierte er sich in Straßburg und wurde 1915 außerordentlicher Professor. 1918 verließ er Straßburg und war von 1919 bis 1921 in Davos und Oberstdorf als Lungenfacharzt tätig. Am Ersten Weltkrieg nahm Dietlen als Stabsarzt der Reserve teil.

1922 übernahm er die Leitung der Inneren Abteilung des Landeskrankenhauses Homburg/Saar. Zeitweilig war er im Kreis Homburg TBC-Fürsorgearzt. Zum 1. Oktober 1936 wechselte er an das Bürgerhospital in Saarbrücken, als Nachfolger von Oscar Groß (1881–1967), der von den Nationalsozialisten als Jude verfolgt und zwangsweise entlassen worden war. Dietlen leitete bis Ende 1949 die Innere Abteilung. Zum Honorarprofessor der Universität des Saarlandes ernannt, starb er am 12. Januar 1955.

Distanz des Saarländers

Die Sonderentwicklung an der Saar gab Dietlen auch Anlass, dortige „Errungenschaften“ als erhaltenswert zu beschreiben. Nachdem das Saargebiet wieder fester Bestandteil des Deutschen Reiches geworden war, veröffentlichte die Deutsche Medizinische Wochenschrift einen umfassenden Beitrag aus der Feder Hans Dietlens über das Landeskrankenhaus Homburg. Dietlen leitete dessen Innere Abteilung. Die sehr offene und kritische Würdigung „seines“ Hauses mündet in einem resümierenden Absatz, der sowohl grundsätzliche Zufriedenheit mit der Situation vor 1935 signalisiert als auch Hoffnung auf Unterstützung durch das Deutsche Reich:

„So darf am Schlusse dieses Berichtes wohl ausgesprochen werden, daß mit dem Landeskrankenhaus Homburg eine Einrichtung geschaffen und entwickelt wurde, die in mancher Hinsicht ein von anderen großen Krankenhäusern abweichendes Eigengepräge trägt und der es vergönnt war, über ihren eigentlichen Zweck hinaus in den ihr gezogenen Grenzen an der Erhaltung und Pflege deutscher Kultur im Saargebiet mitwirken zu können. Nachdem die Anstalt ihre Lebensfähigkeit auch wirtschaftlich erwiesen hat, ist zu hoffen, daß sie auch nach der Rückgliederung des Saargebiets ins deutsche [sic] Reich in der jetzigen Form erhalten bleibt.“2

Eine unterwürfige Erklärung in Richtung der neuen Machthaber war das nicht. Im Gegenteil konnten den Nationalsozialisten Dietlens Sympathien für später als richtungsweisend betrachtete Formen der Psychiatrie kaum gefallen. So betonte er die Integration von Psychiatriepatienten: „Die ursprünglich gehegte Befürchtung, daß eine Psychiatrische Abteilung innerhalb eines allgemeinen Krankenhauses abschreckend auf den Zustrom der übrigen Kranken wirken könnte, hat sich als irrig herausgestellt.“ Im Gegenteil konstatierte er „einen nicht zu unterschätzenden Vorteil für den Gesamtbetrieb“.3

Zu Zwangssterilisierungen durch Bestrahlung berechtigt

Das selbstbewusste Auftreten Dietlens gegenüber den Nationalsozialisten ging bald verloren. Dietlen galt als einer der Pioniere der Röntgenologie, wobei er sich auf Herz und Lunge konzentrierte. Als derart renommierter Röntgenologe wurde er neben seinem Kollegen Hans Erbsen vom Bürgerhospital Saarbrücken, der kein DGIM-Mitglied war, der einzige Mediziner im Saarland, der „zur Durchführung von Unfruchtbarmachungen“ (Zwangssterilisierungen) eine „Strahlenbehandlung“ einsetzen durfte.4 Dies geschah im Rahmen des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“. Als Internist war Dietlen somit für eine Art der NS-Medizinverbrechen verantwortlich, die ansonsten vorwiegend mit Gynäkologen und Chirurgen in Zusammenhang steht.

Zwangsabtreibung, Zwangssterilisierung, Zwangsarbeit

Unter Dietlens Verantwortung als Ärztlicher Direktor geschahen am Saarbrücker Bürgerhospital weitere Verbrechen. Von diesen waren zwei Töchter des im Februar 1937 verhafteten kommunistischen Widerstandskämpfers Josef Klemmer betroffen. Klemmers 1915 geborene Tochter Emma Bauernfeind wurde von den Nationalsozialisten gezwungen, sich im Bürgerhospital einer Abtreibung zu unterziehen. Sie war im sechsten Monat schwanger. Nicht nur das ungeborene Kind starb, auch die Mutter erlag den Folgen der Zwangsabtreibung. Als offizielle Todesursache wurde "Speicheldrüsenentzündung" angegeben. Klemmers 1908 geborene Tochter Franziska Guldner, die im Bürgerhospital beruflich tätig war, wurde dort auf Beschluss des Erbgesundheitsgerichts Ludwigshafen zwangssterilisiert, obwohl sie bereits vier gesunden Kindern das Leben geschenkt hatte. 

Weiter ist bekannt, dass im Bürgerhospital zwischen Juni und September 1937 in fünf Fällen Zwangssterilisierungen an jungen, höchstwahrscheinlich vollkommen gesunden Frauen vorgenommen worden sind, die Verbindungen zwischen Saarländerinnen und schwarzen Besatzungssoldaten entstammten. Diese Operationen waren auch nach NS-Recht illegal und nicht durch das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" gedeckt.     

Aus einer Aktennotiz vom 31. August 1944 ergibt sich, dass eine Zwangsarbeiterin aus der Ukraine im Privathaushalt Dietlens tätig war.5

Kongressvorsitzender im ersten Kriegsjahr

1936 kam Dietlen in den DGIM-Ausschuss, bald darauf in den Vorstand. Als Vorsitzender 1939/40 leitete er den ersten Wiesbadener Kongress im Zweiten Weltkrieg. Dass es im Krieg einen Kongress der DGIM geben sollte, war zuvor keinesfalls sicher gewesen. Die gewöhnlich in zeitlicher Nähe zur DGIM in Bad Nauheim tagende Deutsche Gesellschaft für Kreislaufforschung hatte ihren Kongress abgesagt.6 Denn selbst in der frühen, aus NS-Sicht erfolgreichen Kriegsphase war mit erheblichen Einschränkungen bei der Abhaltung eines wissenschaftlichen Kongresses zu rechnen. Zudem hielten nicht wenige Beobachter ein schnelles Kriegsende für wahrscheinlich, so dass ein Kongress für ein oder zwei Jahre verzichtbar schien.

Der Vorstand unter Dietlen entschloss sich dennoch für die Ausrichtung eines Kongresses. Er fand freilich später als gewöhnlich kurz vor Pfingsten Anfang Mai statt und hatte der Erlaubnis der Wehrmacht bedurft. Dietlen dankte namentlich Generaloberst Erwin von Witzleben, der „uns die Genehmigung zur Anhaltung der Tagung innerhalb seines Befehlsbereiches gegeben hat“.7

Artikulierte Kriegsbegeisterung

Auch wenn der Begriff des „Kriegskongresses“ im Allgemeinen der Wiener DGIM-Tagung von 1943 zukommt, so stand doch schon der 52. Kongress von 1940 ganz unter dem Eindruck der vergangenen acht Monate. In der Eröffnungsrede des kriegsbegeisterten Vorsitzenden kommt dies zum Ausdruck. Für den Sieg zu kämpfen, sei „auch der tiefere Sinn“ des Kongresses. Dietlen lobte Führer und Wehrmacht: „Daß wir mitten in dieser kriegerischen Zeit hier in Wiesbaden, 100 km hinter dem Westwall, an altgewohnter und liebgewordener Stätte tagen können, das verdanken wir dem Führer, dem Schöpfer dieses Schutzwalles, und unserer Wehrmacht.“8 Während der Totenehrung, bislang verstorbenen DGIM-Mitgliedern gewidmet, wurde nun auch „der unbekannten Soldaten des Krieges und der Soldaten der Arbeit“ gedacht.9

Aus dem Ausland wurden nunmehr nur noch Anwesende begrüßt, die „aus dem befreundeten Italien und aus neutralen Staaten, die in nachbarlicher Freundschaft zu uns stehen, herzlich willkommen“ geheißen.10 Auch die „Kollegen“ aus eroberten Gebieten, „aus den jüngsten deutschen Gauen, und hier wieder besonders aus Danzig“, wurden gesondert erwähnt.11

Im wissenschaftlichen Programm spiegelte sich die Kriegssituation am Rande wieder. „Kriegswichtige Themen“ wie „Ruhr, Schlammfieber und [...] Eiweiß“ wurden kurzfristig aufgenommen, ohne dass anderes gestrichen worden wäre. Deshalb, gab Dietlen selbstkritisch zu, war „das Programm etwas überladen“, so dass „etwas durchgehetzt werden mußte“.12 Hier dominierten klassische internistische Themen, zumal diesmal mit der Deutschen Gesellschaft für Kreislaufforschung und der Deutschen Hämatologischen Gesellschaft kooperiert wurde.

Gesundheitspolitische Forderungen

Auffällig ist, dass Dietlen in Zeiten der „Leistungsmedizin“ das Problem „der mehr psychisch als somatisch bedingten Zustände von Leistungsschwäche“ ansprach: „Sie mehren sich gerade in den Kreisen, denen die Hauptlast der Führung und Verantwortung zufällt. Wir Ärzte müssen da rechtzeitig unsere mahnende und warnende Stimme erheben.“13 Auch bildungspolitisch hielt sich Dietlen keineswegs zurück. Er nahm sich das Recht zur Kritik an der Verkürzung des Medizinstudiums bei gleichzeitiger „Hereinnahme von zahlreichen neuen Pflichtlehrfächern“ und außeruniversitären Verpflichtungen der Studierenden durch den Staat.14

Ehrungen nach 1945

Hans Dietlen wurde Ehrenmitglied der DGIM (1950), der Deutschen Röntgengesellschaft, die ihm auch die Rieder-Medaille überreichte (1952), der Medizinischen Gesellschaft des Saarlandes und der Österreichischen Röntgengesellschaft.15 Zum 75. Geburtstag Dietlens erklärte der Vorsitzende der Deutschen Röntgen-Gesellschaft, Heinz Lossen, Dietlen sei 1945 „gezwungen“ worden, „in den Ruhestand zu treten, ohne daß ihm überflüssigerweise die grausame Mühe einer harten Entnazifizierung erspart geblieben wäre“.16 Am 9. Januar 2019 wurde der Hans-Dietlen-Weg in Saarbrücken wegen der neueren Forschungsergebnisse zur NS-Vergangenheit Dietlens umbenannt. Seit dem 9. Januar 2019 trägt die Straße den Namen „Oscar-Gross-Weg“.17 Die Ehrenmitgliedschaft der DGIM wurde Dietlen 2021 wieder aberkannt.


Quellennachweise

Hans Dietlen, Das Landeskrankenhaus Homburg (Saargebiet), in: Deutsche medizinische Wochenschrift, Bd. 61 (1935), Nr. 1, S. 18–20, S. 20.Dietlen, LandeskrankenhausDietlen, Landeskrankenhaus, S. 19.Vgl. Arthur Gütt/Ernst Rüdin/Falk Ruttke (Bearb.), Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933 nebst Ausführungsverordnungen, 2. neubearb. Aufl., München 1936, S. 377 ff. zit. n. Ralf Forsbach, „Euthanasie“ und Zwangssterilisierungen im Rheinland (1933–1945), in: Portal Rheinische Geschichte (http://rheinische-geschichte.lvr.de/Epochen-und-Themen/Themen/euthanasie%22-und-zwangssterilisierungen-im-rheinland-1933%E2%80%931945/DE-2086/lido/57d1351705eaa2.40921674, einges. 25.5.2021).Auskunft Thomas Blug/Stadt Saarbrücken an Maximilian Broglie/DGIM, 20.2.2019; zum Unrecht an der Familie Klemmer siehe auch: https://www.saarbruecken.de/kultur/stadtgeschichte/stolpersteine_in_saarbruecken, einges. 25.5.2021.Vgl. H.[ans] Dietlen, Eröffnungsansprache des Vorsitzenden, in: Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin 52 (1940), S. 1–11, S. 4.Dietlen, Eröffnungsansprache, S. 1.Dietlen, Eröffnungsansprache, S. 1.Dietlen, Eröffnungsansprache, S. 4.Dietlen, Eröffnungsansprache, S. 2.Dietlen, Eröffnungsansprache, S. 3.Hans Dietlen, Schlußansprache, in: Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin 52 (1940), S. 514.Dietlen, Eröffnungsanprache, S. 5.Dietlen, Eröffnungsanprache, S. 7.Vgl. H. Weil, Prof. Dr. med. Hans Dietlen †, in: Saarländisches Ärzteblatt, 8. Jg. (1955), S. 1; Auskunft Nina Keil/Deutsche Röntgengesellschaft, 1.7.2013.Heinz Lossen, Prof. Dr. Hans Dietlen 75 Jahre alt, in: Fortschritte auf dem Gebiet der Röntgenstrahlen und der bildgebenden Verfahren, Bd. 80 (1954), S. 525-526, S. 525.Vgl. www.saarbruecker-zeitung.de, einges. 10.2.2020.

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