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Hans Eppinger

geb. am 05.01.1879 in Prag
gest. am 25.09.1946 in Wien

Mitglied der DGIM 1909 bis 1946

Hans Eppinger stand der DGIM von 1941 bis zu seinem Tod 1946 vor. Seine unkonventionelle Eigenwilligkeit und Kritikfreude hinderte ihn nicht daran, der NSDAP zu folgen und die Salzwassertrinkversuche im KZ Dachau zu leiten.

Der Katholik Hans Eppinger wurde am 5. Januar 1879 in Prag geboren und wuchs ab 1882 in Graz auf. Sein Vater war der Pathologieprofessor Hans Eppinger sen. (1846–1916), seine Mutter hieß Anna Marterer. Hans Eppinger heiratete 1908 in Klagenfurt Georgine Zetter. Aus der Ehe gingen zwei Töchter hervor. Die Tochter Maria heiratete Arthur Rühl, Medizinprofessor in Prag.1

Durch seinen Vater in besonderer Weise vorgebildet, wurde Eppinger 1902 in Graz promoviert, wo er sich 1907 auch habilitierte. Die „Übertragung der Venia legendi für Wien“ erfolgte 1908. Zu seinen weiteren Lehrern zählen Friedrich Kraus, Ludolf von Krehl, Franz Hofmeister, Richard Paltauf und Carl von Noorden. Von 1908 bis 1926 blieb er in Wien tätig, zunächst als Assistent unter Carl Harko von Noorden und Karel Frederik Wenckebach. 1908 wurde er zunächst unbesoldeter, seit 1911 besoldeter Assistent an der I. Medizinischen Klinik und 1914 außerplanmäßiger und 1918 außerordentlicher Professor. 1926 erhielt er einen Ruf an die Universität in Freiburg im Breisgau. Von hier wechselte er 1930 nach Köln und 1933 nach Wien an die I. Medizinische Universitätsklinik. Nach eigenen Angaben fand er sich auf Berufungslisten nach Straßburg (1915, Poliklinik, primo loco), Halle (1919, Poliklinik), Rostock (1921, Nachfolge Martius, primo loco), Königsberg (Nachfolge Schittenhelm, secundo loco), Leipzig (Nachfolge Strümpell), Prag (Nachfolge Jaksch, primo loco), Frankfurt (Nachfolge Bergmann, secundo loco), Berlin (Nachfolge Kraus, tertio loco) und Graz (Nachfolge Lorenz, primo loco). Am Ersten Weltkrieg nahm er auf Seite Österreichs als dem Armee-Oberkommando zugeordneter Arzt teil. Er erhielt den Franz-Joseph-Orden.

Laut und ungestüm

Die Nachfolge Hans Dietlens als DGIM-Vorsitzender trat mit Hans Eppinger ein ganz anderer Charakter an. Eppinger war laut und ungestüm, errang aber durch sein – gleichwohl umstrittenes – Wirken an Klinik und Schreibtisch größte Aufmerksamkeit und zählte zu den führenden Internisten. In seiner ersten Wiener Phase von 1908 bis 1926 hatte Eppinger menschlich kein hohes Ansehen gewonnen. Obwohl als Fünfzigjähriger 1929 „der logische Nachfolger“ des in Wien ausgeschiedenen Karel Frederik Wenckebach kam es im für die Berufung zuständigen Professorenkollegium zu einer Pattsituation, so dass die Nachfolge bis 1933 ungeregelt blieb.2 Eppingers „schroffe und rücksichtlose Art“ blieb ein Hindernis.3

1933 von Köln nach Wien

Nach dem Regierungsantritt der Nationalsozialisten bat Eppinger, der zwischenzeitlich von Freiburg nach Köln gewechselt war, dringlich in seiner österreichischen Heimat um einen Ruf. Er reiste nach Wien und konnte am 6. Februar aus dem Hotel Regina an den Kölner Dekan schreiben, er habe die „officielle Berufung für die Nachfolge nach Wenckebach“ erhalten.4 In Köln fand die Personalie schnell Beachtung. Der kurz vor seiner Absetzung stehende Oberbürgermeister Konrad Adenauer (Zentrum) wurde umgehend in Kenntnis gesetzt.5 Der „Kölner Lokal-Anzeiger“ kommentierte, es sei „ein großer Verlust“, wenn Eppinger „den Ruf nach Wien annähme“.6

Die Nationalsozialisten drängten auf Eppingers rasche Entfernung, nachdem Gerüchte über eine „jüdische Abstammung“ kursierten. Kurzzeitig wurde die Medizinische Klinik in Köln besetzt und Eppinger gehindert, sie zu betreten.7 Konrad Adenauers Nachfolger als Oberbürgermeister, Günter Riesen (NSDAP), wurde Anfang April deutlich: Eppinger solle „noch vor Beginn des Sommersemesters nach Wien übersiedeln“ und der Dekan möge „mit allen Kräften den endgültigen Abschluß nach Wien fördern“, da Eppinger „aus verschiedenen Gründen fachlicher und personeller Natur mit seiner Beurlaubung zum 1. Mai rechnen müsse“.8

Am 1. Mai 1933 wurde Eppinger Leiter der I. Medizinischen Klinik Wien und am 9. Juni 1933 rückwirkend von seinen Kölner Verpflichtungen entbunden.9 Drei Jahre zuvor war er von Werner Richter, einem der Hochschulreformer im Berliner Kultusministerium, als „wissenschaftlich der bedeutend­ste Internist in Deutschland“ bezeichnet worden.10 Nun war Eppinger de facto wegen seiner vermuteten „nicht arischen“ Abstammung vertrieben worden.11 Offiziell aber sprach ihm der Minister für das in Köln Geleistete seine „Anerkennung“ aus.12

Wie überstürzt der Umzug vonstatten ging, zeigt der Dank von Eppingers Frau an Dekan Friedrich Bering, den Direktor der Hautklinik; er hatte ihr namens einiger Kollegen einen Blumengruß gesandt.13 „Es tut mir ja so leid“, schrieb sie am 30. April noch aus Köln, „dass ich Sie Alle nicht noch mal zum Abschied hier bei uns sehen kann. Ich hatte mir das so schön ausgedacht – eine kleine gemütliche Maibowle bei uns im Garten – und der Flieder blüht dies Jahr so schön wie noch nie – schade, zu schade!“14

Zusammenarbeit mit jüdischen Kollegen

In Wien äußerte sich Eppinger immer wieder negativ über seine früheren Wirkungsstätten Freiburg und Köln und erklärte nach den Erinnerungen des Pathologen Herwig Hamperl später „voll Stolz […], daß er nur in Wien eine Antrittsvorlesung gehalten habe“.15 An einen länger währenden gefährlichen Einfluss der Nationalsozialisten in Europa glaubte er nicht: „Eine Bewegung, die sich gegen Juden und die katholische Kirche wendet, kann sich nicht halten“, erklärte er gegenüber seinem später zur Emigration gezwungenen Kollegen Julius Bauer.16 Unbekümmert forschte und publizierte er, auch gemeinsam mit seinen bald als Juden verfolgten Assistenten Hans Kaunitz und Hans Popper. Auf Letzteren war Eppinger durch dessen Publikationen aufmerksam geworden und hatte ihn schon zu einem dreimonatigen Forschungsaufenthalt nach Freiburg eingeladen.17 In Wien warb er ihn von Rudolf Maresch aus dem Pathologischen Institut ab.18

Mit „den beiden Hänsen“ veröffentlichte Eppinger 1935 eine „der alten Wiener medizinischen Schule anlässlich der 150-Jahrfeier des Allgemeinen Krankenhauses“ zugeeignete Schrift über „Die seröse Entzündung“.19 Die dahinter stehende Idee Eppingers, Gelbsucht beruhe auf Ernährungsfehlern oder Lebensmittelvergiftung und nicht auf einer Virusinfektion, erwies sich zwar als falsch, doch gaben die Wiener Forschungen der Wissenschaft manchen Impuls.20 1937 festigte Eppinger mit seinem „der Gesellschaft der Ärzte in Wien zu ihrer Hundertjahrfeier“ gewidmetem Opus magnum „Die Leberkrankheiten“ seinen wissenschaftlichen Ruf.21 Bei den Veranstaltungen der Gesellschaft im Billrothhaus war er immer wieder präsent.22 Auch weit über Wien hinaus wuchs sein Renomee weiter. Paul Martini erklärte ihn noch 1964 in seinen Memoiren zum „ideenreichsten Internisten“ seiner Zeit.23

„Moral insanity“

Eppingers Wiener Gegner mögen dennoch bald bereut haben, seiner Berufung schließlich doch zugestimmt zu haben. „Halb Faustus, halb Mephisto“ galt er rasch als „ein Mann, dessen wissenschaftliche Fähigkeiten man zwar bewundern, auf den man sich aber in keiner Weise verlassen konnte“.24 Sein „Experimentier-Furor“ und seine „moral insanity“ nahekommende psychische Verfassung waren ständiger Gesprächsstoff unter den Kollegen.25 Die Liste seiner menschlich unangemessenen, gegen die guten Sitten verstoßenden oder sogar strafrechtlich relevanten Handlungsweisen ist lang: Patienten, Assistenten und Mitarbeiter „behandelte er wie leblose Gebrauchsgegenstände“.26 Einen Chemiker, den er bewogen hatte, mit ihm von Köln nach Wien zu wechseln, kündigte er bald mit den Worten: „Ich brauche Sie nicht mehr“.27 In der Bibliothek der Wiener Gesellschaft der Ärzte schnitt er ihn interessierende Seiten aus Büchern heraus und erhielt, als erstes und einziges Mitglied des Professorenkollegiums in Wien, Bibliotheksverbot.28 Auch „ihm nicht genehme Besprechungen seiner Arbeiten“ hat er durch Herausreißen aus allgemein zugänglichen Zeitschriftenbeständen entfernt.29 Als er für seine Forschungen Präparate benötigte, besuchte er gemeinsam mit Popper die Pathologie und schnitt in einem unbeobachteten Augenblick einem in Formalin eingelegten Torso „kurzerhand den Hodensack samt Inhalt ab“; in der Publikation wurde einem „javanischen Professor X.Y. für die Überlassung des Untersuchungsmaterial[s] gedankt“.30 Die damals noch komplikationsreiche Leberbiopsie nahm Eppinger häufig aus rein wissenschaftlichen Gründen und ohne Einwilligung der Patienten vor.31 Er öffnete die Arteria radialis eines Patienten ohne medizinischen Grund.32 Wer die Gelbsucht (korrekterweise, aber gegen Eppingers Meinung) als Infektionskrankheit bezeichnete, konnte vor Eppinger keine Prüfung bestehen, während in der nahen pädiatrischen Klinik Franz Hamburgers das Gegenteil galt.33 Er urinierte „ungeniert“ in Waschbecken der Klinik.34 „Aus dem Spitalslift“ spuckte er „zielsicher auf Patienten hinab, lief am hellichten Tag mit nichts als einem kurzen Nachthemd bekleidet“ durch die Klinik, legitimierte sich gegenüber einem Polizisten mit „der Visitenkarte eines Patienten, der hierauf vorgeladen wurde“, brach Laboratoriumsschränke anderer auf, „verunreinigte“ die Räumlichkeiten eines ihm verhassten Kollegen und „stahl die Lieblingskatze der Oberschwester zu Versuchszwecken, während er seinem eigenen flohreichen Hund in der Klinik ungewöhnliche Privilegien einräumte“.35 Nach möglicherweise auf seine Therapien zurückzuführende Todesfälle reagierte er kaltherzig; seine an Diphterie gestorbene Tochter sezierte er im eigenen Haus.36

Genialisches

Zugleich hatte der humorlose, nie öffentlich auch nur ein Lächeln zeigende Eppinger Genialisches an sich.37 In der Forschung setzte er auf die biochemische Analyse und wurde „damit zum Vater der funktionellem Pathologie“, der „Lehre von der veränderten Tätigkeit der Organe unter Krankheitsbedingungen“.38 Im Vorübergehen erkannte er Krankheiten.39 Die Kommunisten riefen Eppinger nach Moskau, um von ihm Stalin untersuchen zu lassen. Ihm wurden Stalin und ein Doppelgänger vorgestellt. Eppinger konnte nur erahnen, wer tatsächlich Stalin war. Einer der beiden litt an Leberzirrhose.40 Auch andere Prominente wie Mitglieder der Familie Ribbentrop und König Boris von Bulgarien suchten Eppingers Rat.41

NSDAP-Beitritt vor dem „Anschluss“ Österreichs

Im Vorfeld der Annexion Österreichs unterschätzte Eppinger die Gefahr des Nationalsozialismus, obwohl er doch fünf Jahre zuvor in Köln ungute Erfahrungen mit dem NS-Regime gemacht hatte. Eppinger trat „ganz für die nationalsozialistische ‚Machtergreifung‘ in Österreich“ ein.42 Im Februar 1937 wurde er Mitglied der damals in Österreich noch verbotenen NSDAP (Nr. 6164614). Paul Martini berichtete später, er habe seinen Wiener Kollegen in einem Gespräch darauf aufmerksam gemacht, „daß die Österreicher“ – anders als manche Deutsche 1933 – „mit offenen Augen in ihr Unheil rennen würden“. Eppinger aber glaubte, man werde die schlimmsten Nationalsozialisten von den „leitenden Stellen“ abhalten können. Sein Gegenüber „konnte ihn über so viel Naivität nur auslachen.“43

Als Hans Popper nach dem Einmarsch Hitlers im März 1938 akut bedroht war, zeigte sich Eppinger erneut zuversichtlich: „In einer Woche ist der ganze Spuk vorbei“, soll er seinem Assistenten gesagt haben.44 Mitte 1938 gelang dem kurz vor der Habilitation stehenden Popper mit dem Flugzeug die Flucht zunächst nach Prag.45 Eppinger gestattete ihm, ein Fluoreszenzmikroskop mitzunehmen, das Popper bei seinen bald folgenden Forschungen in Chicago einsetzte.46

Auch nach außen hin verhielt sich der „Sonderführer“ Eppinger aus Sicht der NSDAP nicht immer zur Zufriedenheit. Er trug seine Parteiuniform leger, knöpfte weder den Mantel noch den obersten Kragenknopf zu: „Einen preußischen Offizier hätte der Schlag getroffen, wenn er ihm in dieser Aufmachung begegnet wäre.“47

Eppinger wurde vielfach als politisch naiv oder auch unpolitisch bezeichnet. Zu dieser Einschätzung mag seine emotionslose Art beigetragen haben. Ferdinand Hoff schilderte Eppinger als Mann, der auch wichtige Sachverhalte „mit der müden Nonchalance“ mancher Österreicher vortrug.48 Zur Kriegslage erklärte er im Herbst 1944 nach Hoffs Erinnerungen: „Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst“.49 Dass Eppinger durchaus frühzeitig politische Strömungen wahrnahm und ihnen mit einer gehörigen Portion Opportunismus begegnete, schildert sein zeitweiliger, 1939 in die USA geflohener Assistent Willi Raab: Er „erstarb vor jedem behördlichen Funktionär in geradezu komischer Ehrerbietung und bemühte sich, in jeder politischen Gruppe, insbesondere auch unter den für die Zukunft wichtigen Nationalsozialisten heimlich vorteilhafte Verbindungen anzuknüpfen, was ihm die Bezeichnung ‚der Je-nachdem-okrat‘ eintrug“.50

Der Wiener Kriegskongress

Angesichts des im Jahr zuvor erfolgten „Anschlusses“ Österreichs entschied die Führungsspitze der DGIM im Frühjahr 1939, den für 1941 geplanten 53. Kongress nicht wie üblich in Wiesbaden, sondern in Wien abzuhalten.51 Zugleich wurde Hans Eppinger in den Vorstand berufen, damit er dem Kongress als Direktor der Wiener Medizinischen Universitätsklinik Wien I würde vorstehen können.52 Der Krieg aber führte zu einem Aufschub. 1941 und 1942 entschloss sich die DGIM jeweils recht kurzfristig zur Absage. Schließlich fand der 53. Kongress Ende Oktober 1943 tatsächlich in Wien statt. Es war nun keine großdeutsche Freudenveranstaltung, sondern ausdrücklich ein „Kriegskongress“ in der vor Luftangriffen noch vergleichsweise sicheren Stadt. Ebenfalls kriegsbedingt verzichtete man auf Neubesetzungen in den Gremien. So behielt Eppinger den Vorsitz bis nach Ende des Zweiten Weltkriegs.

Als Vorsitzender der DGIM und Präsident „seines“ Wiener Kriegskongresses demonstrierte Eppinger ein politisches Selbstbewusstsein, das man zwar als naiv bezeichnen mag, das aber zweifellos von einem gewissen Mut zeugt. In der Eröffnungsrede ist immer wieder von den Kriegslasten die Rede, weniger von Siegeszuversicht. Dabei beanspruchte er für die Ärzte in einem „höheren Sinne […] soldatische innere Haltung und das Verantwortungsbewußtsein einer neuen Zeit gegenüber“.53 Die Ärzte hätten schon vor 1939 „mitten im Kampf gestanden“ und müssten heute für „Jahrzehnte vorausdenken“.54 Dies war nicht bloße Rhetorik, mussten die begrüßten Ehrengäste, darunter Reichsgesundheitsführer Leonardo Conti sowie der Präsident des Reichsgesundheitsamtes Hans Reiter, doch mehr als einmal erkennen, dass Eppinger die Interessen der Inneren Medizin vor ideologische Erwägungen rückte.55

Angesichts des Ende 1943 noch von der Wehrmacht kontrollierten Raums erfasste Eppinger „ein leichter Schauer“, wenn er an die künftigen „ärztlichen Aufgaben“ dachte.56 Auf die neuen „verantwortungsvollen Posten“ gehörten nach seiner Ansicht „erfahrene Ärzte“.57 Doch die Medizinischen Fakultäten waren nicht mehr in der Lage, in ausreichender Zahl gute Ärzte auszubilden. Eppinger sprach dies offen aus und attackierte die nationalsozialistischen Studienreformen.58 Eine eigene Reformidee kleidete Eppinger in nationalsozialistischen Duktus. Um talentierte Ärzte, die „einmal eine Führerrolle“ einnehmen könnten, zu fördern, solle man diese bevorzugen dürfen – auch vor „einer Persönlichkeit, die bieder und brav durch Jahre hindurch von der Druckerschwärze reichlich Gebrauch gemacht hat“.59

Salzwassertrinkversuche im KZ Dachau

Bald nach dem Wiener Kriegskongress wurden Eppinger und sein Assistent Wilhelm Beiglböck Täter im NS-Unrechtssystem. Sie trugen Verantwortung für Humanexperimente, die der Trinkbarmachung von Salzwasser und lebensrettenden Ratschlägen für in Seenot Geratene dienen sollten. Zugrunde lag die Erfahrung, dass Soldaten, die über Tage im Meer getrieben waren, scheinbar unverletzt gerettet werden konnten, dann aber doch verstarben.60

Am 20. Mai 1944 fand eine Besprechung im Technischen Amt der Luftwaffe in Berlin statt, an der eine aus 14 Personen bestehende Gruppe von Ministerialbeamten, Ärzten und Militärs zur „Besprechung Trinkbarmachung von Meerwasser“ teilnahm und Versuche an KZ-Häftlingen in Dachau beschlossen wurden.61 In eine „Kommission für die Festlegung der Bedingungen der noch durchzuführenden Versuchsreihen“ beriefen die Teilnehmer der Besprechung als ersten „Professor Eppinger, Wien“. Er wurde am 25. Mai 1944 auf einer ersten „Kommissionssitzung“ in Berlin unterrichtet.62

Entlastungsversuche zugunsten Eppingers laufen ins Leere. Eppinger hat wiederholt das KZ Dachau besucht.63 Belegt ist, dass er einmal gemeinsam mit Kurt Plötner auftrat, der als Forscher des SS-Ahnenerbes vor Ort war, ein anderes Mal zur Inspektion der Versuchsanordnung.64 Zu behaupten, Eppinger sei an den Versuchen „nicht mehr in irgendeiner Weise beteiligt“ gewesen, wie es noch 1993 Heribert Thaler tat, ist falsch.65

Der Reichsführer SS Heinrich Himmler selbst stimmte den Humanexperimenten mit KZ-Häftlingen zu.66 40 Roma und Sinti mit der Häflingsbezeichnung ASR („Arbeitsscheu Reich“) wurden in der Folge als Versuchspersonen aus Buchenwald nach Dachau verbracht.67

Nach Aussagen während des Nürnberger Ärzteprozesses haben zunächst sämtliche Versuchspersonen zehn Tage lang „volle Fliegerverpflegung“ (3000 Kalorien) erhalten. Anschließend habe eine Gruppe hungern und dürsten müssen, während die anderen Gruppen die Seenotverpflegung der Luftwaffe hätten essen dürfen. Eine Gruppe musste täglich einen halben Liter Meerwasser mit einem chemischen Zusatz trinken, eine weitere einen ganzen Liter. Eine weitere Gruppe hatte ein gemäß einem zweiten Verfahren behandeltes Seewasser zu trinken. Eine Kontrollgruppe durfte gewöhnliches Trinkwasser in beliebiger Menge zu sich nehmen.68

Der Zeuge Karl Höllenreiner

Einer der 40 aus Buchenwald nach Dachau verlegten KZ-Häftlinge, Karl Höllenreiner, schilderte 1947 den Versuch aus Opferperspektive: „Ungefähr Anfang August 1944 kam ich und die anderen 39 Zigeuner dieser Gruppe in Dachau an. […] Während dieser Experimente hatte ich furchtbare Durstanfälle, fühlte mich sehr krank, verlor stark an Gewicht und zum Schluss bekam ich Fieber und fühlte mich so schwach, dass ich mich nicht mehr auf den Beinen halten konnte. [...] Während der Experimente erhielten die meisten Zigeuner Leber- und Rückenmarkpunktionen. Ich selbst habe eine Leberpunktion erhalten und weiß aus meiner eigenen Erfahrung, dass diese Punktionen furchtbar schmerzhaft waren. Noch heute, wenn das Wetter wechselt, fühle ich starke Schmerzen, wo die Leberpunktion durchgeführt wurde. [...] Ungefähr zwischen der ersten und zweiten Woche der Experimente wurden alle Zigeuner auf Tragbahren mit weißen Tüchern überdeckt aus dem Krankenzimmer heraus in den Hof getragen. Hier wurden die nackten Körper fotografiert […]. Kurz nach den Aufnahmen wurden uns Nummern auf die Brust tätowiert. […] Von den ursprünglich 40 hat einer, wie bereits erwähnt, die Versuche nur wenige Tage mitgemacht. Drei waren so dem Tode nah, dass man sie am selben Abend auf Tragbahren, mit weißen Tüchern abgedeckt, herausgetragen hat. Von diesen drei habe ich niemals wieder etwas gehört.“69 Eindeutige Belege für den Tod von Menschen „während der Experimente oder in deren Folge“ sind bislang nicht aufgefunden worden.70 Drei der während des Humanexperiments Malträtierten starben jedoch noch in der NS-Zeit.71

Suizid nach Zeugenvorladung

Hans Eppinger nahm sich 1946 das Leben. Nicht zuletzt die Dachauer Trinkwasserversuche dürften neben privaten Schicksalsschlägen Hans Eppinger nach dem Ende der NS-Zeit bedrückt haben. Sein Nimbus als Arzt Stalins half ihm in der russischen Besatzungszeit nur bedingt. Die Klinik durfte Eppinger nicht mehr betreten; er konnte nur ein nahes Privatkrankenhaus nutzen. Heribert Thaler erschien er bei einer Begegnung am 28. August 1945 „gealtert und tief deprimiert“. Sein Sohn und sein Enkel waren tot, auch sein Schäferhund, der in der Klinik unter seinem Schreibtisch zu liegen pflegte.72 Er hoffte, wieder in „seine“ Klinik zurückkommen zu können und lehnte ein Angebot, nach Moskau zu wechseln, ab.73 Die sowjetischen Besatzer schätzten und nutzten Eppingers medizinische Fähigkeiten. Herwig Hamperl schildert in seinen Erinnerungen eine Szene, in der Eppinger von einem sowjetischen Offizier vom privaten Mittagstisch geholt wird und seine Frau klagt: „Immer wieder holt man meinen Mann, sagt nicht, wohin er gefahren wird und wann er zurückkommt. Immer muß man bei diesen unberechenbaren Russen zittern, daß sie ihn einmal ganz behalten.“74

Zugleich nahmen die westlichen Alliierten Eppinger ins Visier. Der zu Nachforschungen über Medizinverbrechen nach Wien entsandte Flight Sergeant Charles Ernest Ippen wurde vom Dekan der Wiener Medizinischen Fakultät, Leopold Arzt, auf Eppinger hingewiesen.75

Trotzdem schmiedete Eppinger noch Zukunftspläne. Er erwog, in Großgmain ein Haus für an Infektionen Erkrankte einzurichten, und verhandelte in dieser Angelegenheit mit der Salzburger Landesregierung. Er hoffte, in dörflicher Abgeschiedenheit „besondere Fragestellungen“ verfolgen zu können.76 Dazu kam es nicht mehr. Für den Fall seiner Verhaftung trug er stets Zyankali bei sich. Nachdem er die Vorladung zum Nürnberger Ärzteprozess erhalten hatte, nahm er sich das Leben – möglicherweise nicht aus Scham und Furcht, sondern weil für ihn „ein Leben ohne Tierstall und Laboratorium“ uninteressant war.77

Im Vergleich zu anderen Humanexperimenten, bei denen viele Menschen ihr Leben verloren und dennoch bei einer größeren Öffentlichkeit kaum auf Aufmerksamkeit stießen, sind die Versuche Eppingers und Beiglböcks bis heute bekannt und werden immer wieder thematisiert.78


Quellennachweise

Zur Biographie siehe Universitätsarchiv Wien, MED PA 104.Heribert Thaler, Der blaue Papagei. Erlebte Medizin, erlebte Welt, Leipzig 1993, S. 40.Thaler, Papagei, S. 40.Universitätsarchiv Köln, Zugang 67/1016, Eppinger an Dekan/MF Köln, 6.2.1933.Universitätsarchiv Köln, Zugang 67/1016, Adenauer an Dekan Leupold, 9.2.1933.Universitätsarchiv Köln, Zugang 17/1229, Ausschnitt „Kölner Lokal-Anzeiger“, 8.2.1933.So jedenfalls Thaler, Papagei, S. 41.Universitätsarchiv Köln, Zugang 67/1016, Riesen an Dekan Leupold, 4.4.1933. Vgl. Monika Frank, Medizinische Forschung in Köln bis zum Zweiten Weltkrieg. Zwischen Krankenbett und Laboratorium, in: Vorstand der Uniklinik Köln (Hg.), Festschrift des Universitätsklinikums Köln. 100 Jahre Klinik „auf der Lindenburg“, Köln 2008, S. 75–98, S. 81.Universitätsarchiv Köln, Zugang 67/1016, Preußischer Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung an Eppinger, 9.6.1933; Universitätsarchiv Wien, MED PA 104, Egger/Unterrichtsministerium Wien an Dekanat MF Wien, 20.4.1933.Zit. n. Frank, Forschung, S. 81.Vgl. Frank, Forschung, S. 81.Universitätsarchiv Köln, Zugang 67/1016, Preußischer Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung an Eppinger, 9.6.1933.Universitätsarchiv Köln, Zugang 67/1016, Bering an „hochverehrte gnädige Frau“ Eppinger, 29.4.1933.Universitätsarchiv Köln, Zugang 67/1016, Eppinger an Bering, 30.4.1933.Herwig Hamperl, Werdegang und Lebensweg eines Pathologen, Stuttgart/New York 1972, S. 152.Zit. n. Julius Bauer, Medizinische Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts im Rahmen einer Autobiographie, Wien 1964, S. 73.Vgl. Thaler, Papagei, S. 41.Vgl. Thaler, Papagei, S. 43.Thaler, Papagei, S. 43; Hans Eppinger/Hans Kaunitz/Hans Popper, Die seröse Entzündung. Eine Permeabilitäts-Pathologie, Wien 1935.Vgl. Thaler, Papagei, S. 43 ff., S. 47 f.Hans Eppinger, Die Leberkrankheiten. Allgemeine und spezielle Pathologie und Therapie der Leber, Wien 1937.Vgl. für viele Ankündigung der Wiener Medizinischen Gesellschaft, in: Wiener Medizinische Wochenschrift 93 (1943), S. III.Paul Martini, Erinnerungen, Teil IV. Unveröffentlichtes Typoskript, S. 247.Volker Klimpel, Ärzte-Tode. Unnatürliches und gewaltsames Ableben in neun Kapiteln und einem biographischen Anhang, Würzburg 2005, S. 59; Willi Raab, Und neues Leben blüht aus den Ruinen. Stationen meines Lebens 1895-1939, München 2009, S. 238; vgl. Hamperl, Werdegang, S. 228 f.Raab, Leben, S. 237.Raab, Leben, S. 237.Zit. n. Thaler, Papagei, S. 41.So jedenfalls Thaler, Papagei, S. 41.Raab, Leben, S. 238.Thaler, Papagei, S. 44.Vgl. Thaler, Papagei, S. 47.Vgl. Sigismund Peller, Not in my Time. The Story of a Doctor, New York 1979, S. 81. Zu dem Wiener Sozialmediziner Sigismund Peller, der 1934 zunächst nach Palästina, dann in die USA emigrierte, vgl. auch Reinhard Müller, Sigismund Peller, in: agso.uni-graz.at/marienthal/biografien/peller_sigismund.htm, einges. 7.5.2013; Michael Hubenstorf, Kontinuität und Bruch in der Medizingeschichte. Medizin in Österreich 1938–1955, in: Friedrich Stadler (Hg.), Kontinuität und Bruch 1938 – 1945 – 1955. Beiträge zur österreichischen Kultur und Wissenschaftsgeschichte, Münster 2004, S. 299–332, S. 311.Vgl. Thaler, Papagei, S. 48.Thaler, Papagei, S. 49.Raab, Leben, S. 238.Vgl. Thaler, Papagei, S. 49 f.Vgl. Thaler, Papagei, S. 48.Vgl. Thaler, Papagei, S. 41.Vgl. Thaler, Papagei, S. 43, S. 49 f.Vgl. Thaler, Papagei, S. 45 f. – Laut Personalakte reiste Eppinger „zwecks Konsiliarbesuches“ vom 29. Mai 1937 bis zum 7. Juni 1937 nach Moskau (Universitätsarchiv Wien, MED PA 104, Eppinger an Dekan MF Wien, 29.5.1934).Vgl. Klimpel, Ärzte-Tode, S. 59.Martini, Erinnerungen, IV. Teil, S. 247.Martini, Erinnerungen, IV. Teil, S. 247.Zit. n. Thaler, Papagei, S. 46.Vgl. Thaler, Papagei, S. 47.Vgl. Rudi Schmid, Hans Popper 1903-1988. A Biographical Memoir, Washington D.C. 1994, S. 295 f.Thaler, Papagei, S. 52.Hoff, Erlebnis, S. 396.Zit. n. Hoff, Erlebnis, S. 396.Raab, Leben, S. 238.Österreichisches Staatsarchiv Wien, Personalakte Eppinger, „Girann“ (=Géronne) an Eppinger, 3.4.1939, Abschrift.Österreichisches Staatsarchiv Wien, Personalakte Eppinger, „Girann“ (=Géronne) an Eppinger, 3.4.1939, Abschrift.DGIM, Verhandlungen 53 (1943), S. 3.DGIM, Verhandlungen 53 (1943), S. 2.Vgl. DGIM, Verhandlungen 53 (1943), S. 1.DGIM, Verhandlungen 53 (1943), S. 4.DGIM, Verhandlungen 53 (1943), S. 4 f.DGIM, Verhandlungen 53 (1943), S. 8; vgl. Thaler, Papagei, S. 52.DGIM, Verhandlungen 53 (1943), S. 8.Vgl. Thaler, Papagei, S. 51¸ Mitscherlich/Mielke, Medizin, S. 74.Harvard Law School Li­brary, Nuremberg Trials Project. A digital docu­ment collection, Item No. 1186, Niederschrift über die Besprechung Trinkbarmachung von Meerwasser am 20.5.1944, gez. Christensen.Harvard Law School Li­brary, Nuremberg Trials Project. A digital docu­ment collection, Item No. 1186, Niederschrift über die Besprechung Trinkbarmachung von Meerwasser am 20.5.1944, gez. Christensen.Vgl. Paul Weindling, „Unser eigener ‚österreichischer Weg‘“: Die Meerwasser-Trinkversuche in Dachau 1944, in: Herwig Czech/Paul Weindling, Österreichische Ärzte und Ärztinnen im Nationalsozialismus, Wien 2017 (= Jahrbuch des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes 2017), S. 133 –177, S. 147.Vgl. Weindling, Weg, S. 150.Thaler, Papagei, S. 51.Vgl. Alexander Mitscherlich/Fred Mielke, Das Diktat der Menschenverachtung. Eine Dokumentation, Heidelberg 1947, S. 80.Vgl. Weindling, Weg, S. 147 f.Vogelsang-Institut Wien, NL Gustav Steinbauer, Fragen und Antworten Beiglböck; vgl. Mitscherlich/Mielke, Medizin, S. 81.Höllenreiner am 17. Juni 1947 während des Nürnberger Ärzteprozesses, hier zit. n. Ernst Klee, Auschwitz, die NS-Medizin und ihre Opfer, S. 247 ff. – Vgl. ebd. weitere Beiglböck belastende Aussagen auch anderer Zeugen. Vgl. auch die Darstellung in Weindling, Weg, S. 147 ff.Weindling, Weg, S. 135; vgl. ebd., S. 153.Vgl. Weindling, Weg, S. 155; Paul Weindling, Victims and Survivers of Nazi Human Experiments. Science and Suffering in the Holocaust, London u.a. 2015, S. 134.Vgl. Thaler, Papagei, S. 52; Hamperl, Werdegang, S. 227.Vgl. Thaler, Papagei, S. 52.Zit. n. Hamperl, Werdegang, S. 217 f.Vgl. Weindlich, Weg, S. 135.Hamperl, Werdegang, S. 228.Thaler, Papagei, S. 53. Vgl. Weindling, Weg, S. 138.Vgl. für viele Edzard Ernst, Nazis, Nadeln und Intrigen. Erinnerungen eines Skeptikers, 2. Aufl. Hannover 2015, S. 79.

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