Gedenken
&
Erinnern
Medizinisches Unrecht

Karl Höllenreiner

geb. am 09.03.1914 in Fürth
gest. 1984

Einer der etwa 40 aus Buchenwald nach Dachau verlegten KZ-Häftlinge, die dort 1944 zu Salzwassertrinkversuchen unter der Verantwortung der DGIM-Mitglieder Wilhelm Beiglböck und Hans Eppinger herangezogen wurden, war Karl Höllenreiner, ein Sinto, dessen Häftlingsnummer Z10062 bekannt ist.1 Das Humanexperiment überlebte er, auch die anschließende Zwangsarbeit in einem KZ-Außenkommando bei der Messerschmitt GmbH.

Zeuge im Nürnberger Ärzteprozess

Höllenreiner trat im Nürnberger Ärzteprozess 1946/47 als Zeuge auf. Als er Wilhelm Beiglböck erkannte, übersprang er „mit einem gewaltigen Satz die Barriere der Anklagebank“ und versetzte, so die Wiener Tageszeitung „Weltpresse“, seinem ehemalige Peiniger „einen furchtbaren Faustschlag ins Gesicht“ und rief: „Dieser Lump hat mein Leben ruiniert.“2

Wichtig sind Höllenreiners Aussagen über die Dachauer Versuche aus Betroffenenperspektive: „Ungefähr Anfang August 1944 kam ich und die anderen 39 Zigeuner dieser Gruppe in Dachau an. […] In der dritten Woche begannen die eigentlichen Experimente. Wir erhielten überhaupt keine Nahrung mehr und nur Seewasser oder chemisch präpariertes Seewasser zu trinken. Nach meiner Erinnerung war unsere Gruppe von 40 Zigeunern in drei ungefähr gleichstarke Untergruppen aufgeteilt. Gruppe 1 erhielt nur richtiges Seewasser. Gruppe 2 erhielt nur chemisch präpariertes Seewasser, welches eine dunkel-gelbe Farbe hatte und bestimmt noch viel schlimmer war als reines Seewasser. Gruppe 3 erhielt nur präpariertes Seewasser, welches ungefähr aussah wie richtiges Trinkwasser. Ich gehörte zu Gruppe 2. [...] Der Doktor der Luftwaffe war immer anwesend, während das Wasser getrunken wurde. […] Während dieser Experimente hatte ich furchtbare Durstanfälle, fühlte mich sehr krank, verlor stark an Gewicht und zum Schluss bekam ich Fieber und fühlte mich so schwach, dass ich mich nicht mehr auf den Beinen halten konnte. [...] Ich erinnere mich noch genau an eine Szene, wo ein tschechoslowakischer Zigeuner den Doktor der Luftwaffe gebeten hat, dass er unmöglich noch mehr Wasser trinken könnte. Dieser tschechoslowakische Zigeuner wurde daraufhin auf Anordnung von dem Doktor der Luftwaffe an ein Bett festgebunden, der Doktor der Luftwaffe goss diesem Zigeuner persönlich mittels einer Magenpumpe gewalttätig das Seewasser herunter. Während der Experimente erhielten die meisten Zigeuner Leber- und Rückenmarkpunktionen. Ich selbst habe eine Leberpunktion erhalten und weiß aus meiner eigenen Erfahrung, dass diese Punktionen furchtbar schmerzhaft waren. Noch heute, wenn das Wetter wechselt, fühle ich starke Schmerzen, wo die Leberpunktion durchgeführt wurde. Alle Leber- sowie Rückenmarkpunktionen wurden von dem Doktor der Luftwaffe persönlich durchgeführt. [...] Auf Befehl des Doktors der Luftwaffe wurden zwei tschechischen Zigeunern [sic], welche sich etwas frisches Wasser beschafft hatten, zur Strafe während der weiteren Durchführung der Experimente ständig auf ihren Betten mit Stricken festgebunden gehalten. Die meisten Zigeuner bekamen Wahnsinnsanfälle […]. Wenn solche Anfälle in Gegenwart des Doktors der Luftwaffe geschahen, lachte dieser nur ironisch und wenn es ihm zu schlimm wurde, gab er Leberpunktionen, worauf der Betroffene etwas ruhiger wurde. Niemand wurde jemals von den Experimenten befreit, nachdem er einen solchen furchtbaren Anfall mitgemacht hat. Ungefähr zwischen der ersten und zweiten Woche der Experimente wurden alle Zigeuner auf Tragbahren mit weißen Tüchern überdeckt aus dem Krankenzimmer heraus in den Hof getragen. Hier wurden die nackten Körper fotografiert in der Anwesenheit des Doktors der Luftwaffe, welcher die ironische Bemerkung machte, daß die Leute lachen sollten, damit die Bilder freundlicher aussehen würden. Kurz nach den Aufnahmen wurden uns Nummern auf die Brust tätowiert. Diese Tätowierung wurde von dem Doktor der Luftwaffe persönlich durchgeführt. Er benutzte dazu eine chemische Flüssigkeit, welche entsetzlich brannte. […] Von den ursprünglich 40 hat einer, wie bereits erwähnt, die Versuche nur wenige Tage mitgemacht. Drei waren so dem Tode nah, dass man sie am selben Abend auf Tragbahren, mit weißen Tüchern abgedeckt, herausgetragen hat. Von diesen drei habe ich niemals wieder etwas gehört.“3

Eindeutige Belege für den Tod von Menschen „während der Experimente oder in deren Folge“ sind bislang nicht aufgefunden worden.4 Drei der während des Humanexperiments Malträtierten starben jedoch noch in der NS-Zeit.5

Zahlreiche Mitglieder der Familie Höllenreiner wurden in den Vernichtungslagern des Nationalsozialismus ermordet, andere konnten nach 1945 von den Verbrechen berichten. Bekannt wurden vor allem Hermann „Mano“ Höllenreiner und Hugo Höllenreiner.6


Quellennachweise

Arolsen Archives, 01010503 oS, KL Buchenwald, Karl Höllenreiner (collections.arolsen-archives.org).Anonymus, Angeklagter Wiener Arzt vor dem Nürnberger Gericht geohrfeigt. Versuchsopfer erkennt seinen Peiniger. 90 Tage Gefängnis wegen Verletzung der Würde des Gerichtes, in: Weltpresse, 28.6.1947. Vgl. Weindling, Weg, S. 158.Höllenreiner am 17. Juni 1947 während des Nürnberger Ärzteprozesses, hier zit. n. Ernst Klee, Auschwitz, die NS-Medizin und ihre Opfer, 4. Aufl. Frankfurt am Main 1997, S. 247 ff. – Vgl. ebd. weitere Beiglböck belastende Aussagen auch anderer Zeugen. Vgl. auch die Darstellung in Paul Weindling, „Unser eigener ‚österreichischer Weg: Die Meerwasser-Trinkversuche in Dachau 1944, in: Herwig Czech/Paul Weindling, Österreichische Ärzte und Ärztinnen im Nationalsozialismus, Wien 2017 (= Jahrbuch des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstands 2017), S. 133–77, S. 147 ff.Weindling, Weg, S. 135; vgl. ebd., S. 153.Vgl. Weindling, Weg, S. 155; Paul Weindling, Victims and Survivers of Nazi Human Experiments. Science and Suffering in the Holocaust, London u.a. 2015, S. 134.Vgl. u.a. Anja Tuckermann, „Denk nicht, wir bleiben hier!“ Die Lebensgeschichte des Sinto Hugo Höllenreiner, 4. Aufl. München 2013; Matthias Bahr/Peter Poth (Hg.), Hugo Höllenreiner. Das Zeugnis eines überlebenden Sinto und seine Perspektiven für eine bildungssensible Erinnerungskultur, Stuttgart 2014; Anja Tuckermann: „Weil wir Sinti sind“. Die Geschichte von Josef Muscha Müller, Hugo und Mano Höllenreiner, in: Peter Poth (Hg.): Was hat der Holocaust mit mir zu tun? 37 Antworten, München 2014, S. 81–90; Zeuge der Zeit: Mano Höllenreiner, „Wir wollten halt noch leben“, ARD-alpha, 27.01.2017. (www.br.de)

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