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Siegfried Handloser

geb. am 25.03.1885 in Konstanz
gest. am 03.07.1954 in München

Mitglied der DGIM 1937 bis 1954

De facto vom NS-Staat entsandt, kam 1937 Siegfried Handloser in den Ausschuss der DGIM. Hierhin gelangte er nur durch seine politische Rolle, nicht durch wissenschaftliche Leistung. Mitglied der DGIM war er zuvor nicht gewesen.

Siegfried Handloser hatte an der Kaiser-Wilhelms-Akademie für das militärärztliche Bildungswesen studiert. Als überzeugter Militärarzt wurde er 1928 Referent in der Heeres-Sanitäts-Inspektion des Reichswehrministeriums, 1932 Korps- und Wehrkreisarzt V in Stuttgart und 1935 Generalstabs- und Heeresgruppenarzt in Dresden. Seine weitere Laufbahn führte ihn 1938 zum Heeresgruppenkommando 3 in Wien. Ab Februar 1941 war er in der Personalunion Heeressanitätsinspekteur und Heeresarzt im Generalquartiermeisteramt des Oberkommandos des Heeres, im Juni/Juli 1942 wurde er der erste Chef des Wehrmachtssanitätswesens („Chef W San“) beim Oberkommando der Wehrmacht.1

Oberster weisungsbefugter Wehrmachtsarzt

Er kooperierte mit Ernst Robert Grawitz, „Reichsarzt-SS und Polizei“, war aber nicht dessen Vorgesetzter.2 Wohl aber war er „Vorgesetzter des gesamten Sanitätspersonals des Kriegsheeres in sanitätsdienstlichen Angelegenheiten und Truppenvorgesetzter aller Sanitätseinheiten des Kriegsheeres“, einschließlich der Sanitätseinheiten der Waffen-SS.3 Obgleich die Stellung des „Chef W San“ keine starke war, wurde Handloser somit zum Verantwortlichen für alle Medizinverbrechen im Bereich von Wehrmacht und Waffen-SS.4 Hier kam er, nach der streng formalen Sichtweise Wolfgang U. Eckarts, zumindest seiner „Dienstaufsichtspflicht“ über die in den Konzentrationslagern verbrecherisch wirkenden Sanitätsoffiziere nicht nach.5

Während des Kriegs erfuhr Handloser zunehmend Kritik, als Mängel in der Sanitätsversorgung und schließlich deren völliger Kollaps eintraten.6 Aber obwohl er im Herbst 1944 als Heeressanitätsinspekteur und Heeresarzt von Generalleutnant Paul Walter abgelöst wurde, blieb er Chef W San und damit formal oberster weisungsbefugter Wehrmachtsarzt.7 Parallel arbeitete Handloser an einer akademischen Karriere. Er wurde Honorarprofessor der Universitäten Wien (1939) und Berlin (1943).8

Mitverantwortlich für Humanexperimente im KZ Buchenwald

Am 29. Dezember 1941 nahm Handloser an einer Besprechung teil, in der Humanexperimente zum Testen von Fleckfieberimpfstoffen im KZ Buchenwald beschlossen wurden. Sie führten zum Tod von etwa 100 Menschen. Neben Handloser fanden sich zu dem Treffen Reichsgesundheitsführer Leonardo Conti, der Leiter des Hygiene-Instituts der Waffen-SS Joachim Mrugowsky, der Präsident des Reichsgesundheitsamts Hans Reiter und der Leiter des Robert-Koch-Instituts Eugen Gildemeister ein.9

Organisator der Zwangsprostitution

Aktiv betrieb Handloser die Organisation der Zwangsprostitution in den vom Deutschen Reich besetzten Gebieten. Sie fiel in den Bereich des Wehrmachtssanitätsdienstes, dessen Chef er seit Februar 1941 war.10 Handloser bemühte sich darum, die Gefahr von Geschlechtskrankheiten zu minimieren und den „Geschlechtsverkehr mit Jüdinnen“ zu verhindern.11 Durch die geordnete Prostitution sollten zudem unerwünschte Kontakte zu Frauen in den besetzten Gebieten vermieden werden, die zur Spionage hätten genutzt werden können. Nachdem Hitler 1942 Bewährung für wegen homosexueller Handlungen verurteilte Soldaten abgelehnt hatte, wandte sich Handloser auch diesem Thema zu. In diesem Zusammenhang wurde die Einrichtung weiterer Wehrmachtsbordelle zur „Behebung der Sexualnot“ diskutiert.12

Lebenslange Haft

Handloser ist im Nürnberger Ärzteprozess wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Die Strafe wurde am 31. Januar 1951 durch US-Hochkommissar John McCloy auf 20 Jahre Haft reduziert. Untergebracht in der Festung Landsberg erhielt er zeitweilig Unterstützung, wohl vor allem in Form von Nahrungspaketen, durch Ernst Boehringer, dem Mitinhaber von Boehringer Ingelheim.13

Nach dem Urteil wurde die Erwartung an die DGIM herangetragen, sich für Handloser einzusetzen. Die Vorsitzenden von 1949 und 1950, Curt Oehme und Walter Frey, reagierten zunächst zurückhaltend. Oehme, der im Fall der Beurteilung Wilhelm Beiglböcks und seiner Salzwassertrinkversuche anders als Frey ein Eingreifen nur mit medizinischer Begründung für sinnvoll hielt, äußerte sich klar: „Im Falle Handloser vertrete ich prononziert [sic] die Auffassung, dass wir nur medizinisch sachliche Irrtümer richtig stellen können. Die Fragen der Rechtsprechung gehören nicht in unseren Bereich. Dass beide im Grunde im Gefühl der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit wurzeln, ist natürlich richtig, aber der Weg darnach [sic] doch bereits deutlich gegabelt.“14

DGIM für Begnadigung

Oehmes Position setzte sich nicht durch. Die DGIM-Spitze entschloss sich nach Beratungen in einer eigens eingerichteten Dreierkommission (Heilmeyer, Schoen, Kauffmann) zu einer Intervention, die maßgeblich zur Milderung des Strafmaßes für Handloser beigetragen haben dürfte.15 Am 10. Juni 1950 wandte sich die DGIM in einem anderthalbseitigen Schreiben an McCloy. In diesem heißt es u.a.: „Die Deutsche Gesellschaft für innere Medizin fühlt sich verpflichtet, Sie, Hoher Kommissar, zu bitten, dem Fall Handloser Ihre wohlwollende Aufmerksamkeit zuzuwenden und ein offensichtliches Fehlurteil berichtigen zu helfen. Die Verurteilung erfolgte unter Voraussetzungen, welche sich inzwischen als unzutreffend erwiesen haben. […] Die älteren und angesehenen Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin kennen Prof. Handloser seit vielen Jahren und standen mit ihm zum Teil in Zusammenarbeit für ärztliche Aufgaben während des Krieges, Sie sind von der Integrität seiner Persönlichkeit überzeugt und glauben nicht, dass er Verbrechen gegen die Menschlichkeit und das Ethos des Arztes billigte oder förderte und dass die Experimente in Konzentrationslagern seiner Kompetenz unterlagen. […] So sehr wir eine Rehabilitierung durch Revision des Urteils wünschen, so ist unser Anliegen als wissenschaftliche Vereinigung von Aerzten vor allem darauf gerichtet, auf dem raschesten Wege der Begnadigung eine Aufhebung der von uns als unwürdig und ungerecht empfundene Inhaftierung zu erreichen.“16

Bestätigung der DGIM-Mitgliedschaft

Handloser dankte über seinen früheren Mitarbeiter, das Wiesbadener DGIM-Mitglied Hans Hartleben, der Fachgesellschaft, fühlte sich aber durch McCloys Gnadenerlass begleitende Feststellungen, in denen die grundsätzliche Schuld der Begnadigten betont wurde, diffamiert.17 Auf Antrag Hartlebens teilte ihm später Schriftführer Friedrich Kauffmann als „selbstverständlich“ mit, dass er „als Mitglied unserer Gesellschaft weitergeführt“ werde: „Ich darf Sie versichern, dass ich in den ganzen seit Kriegsende vergangenen Jahren an Ihrem Schicksal aufrichtigen Anteil genommen habe und für Ihr hartes Los hat auch unsere Gesellschaft keinerlei Verständnis aufbringen können.“18 Handloser starb wenige Wochen nach Kauffmanns Bestätigung der Mitgliedschaft. In seinem Kondolenzschreiben betonte Kauffmann gegenüber der Witwe, „daß die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin stets den Standpunkt vertreten hat, daß Ihrem Herrn Gemahl in den Nachkriegsjahren ein schweres Unrecht auferlegt worden ist.“19

In den offiziellen Mitgliederverzeichnissen wurde er aber nicht mehr genannt. Als Heinrich Pette bei der Kongresseröffnung 1955 der verstorbenen Mitglieder gedachte, fand er für Handloser anerkennend gemeinte Worte: „Vielen von uns war er durch seine kameradschaftliche Gesinnung menschlich eng verbunden. […] Die Deutsche Gesellschaft für innere Medizin hat sich jahrelang bemüht, das in Nürnberg über ihn gefällte harte Urteil zu berichtigen und zu mildern. Wir werden diesem aufrechten deutschen Mann ein ehrendes Andenken bewahren.“20


Quellennachweise

Vgl. Insa Meinen, Wehrmacht und Prostitution während des Zweiten Weltkriegs im besetzten Frankreich, Bremen 2002, S.12; Ernst Klee, Auschwitz, die NS-Medizin und ihre Opfer, 4. Aufl. Frankfurt am Main 1997, S. 142 f.; ; Alexander Neumann: „Arzttum ist immer Kämpfertum“. Die Heeressanitätssinspektion und das Amt „Chef des Wehrmachtssanitätswesens“ im Zweiten Weltkrieg (1939-1945). Düsseldorf 2005, S. 112; Judith Hahn, Grawitz, Genzken, Gebhardt. Drei Karrieren im Sanitätsdienst der SS, Münster 2008, S. 361 f.; Horst Zoske, Handloser, Siegfried Adolf, in: Neue Deutsche Biographie 7 (1966), S. 608 f. (http://www.deutsche-biographie.de/pnd139875980.html, einges. 12.2.2014); Wolfgang U. Eckart, Generaloberstabsarzt Prof. Dr. med. Siegfried Handloser, in: Gerd R. Ueberschär (Hg.), Hitlers militärische Elite. 68 Lebensläufe, 3. Aufl. Darmstadt 2015, S. 359–363.Zu den Kompetenzen vgl. Neumann, Arzttum, S. 119; Hahn, Grawitz, S. 398. Vgl. auch Wolfgang U. Eckart, SS-Obergruppenführer und General der Waffen-SS Prof. Dr. med. Ernst Grawitz, in: Ueberschär, Elite, Bd. 2, S. 63–71.Zit. n. Neumann, Arzttum, S. 86; vgl. Hahn, Grawitz, S. 224.Vgl. Hahn, Grawitz, S. 362; Eckart, Handloser, S. 88 ff.Eckart, Generaloberstabsarzt, S. 89.Vgl. Eckart, Generaloberstabsarzt, S. 89.Vgl. Eckart, Generaloberstabsarzt, S. 89.Vgl. Zoske, Handloser.Vgl. Hahn, Grawitz, S. 328 sowie für den Gesamtzusammenhang Thomas Werther, Fleckfieberforschung im Deutschen Reich 1914-1945. Untersuchungen zur Beziehung zwischen Wissenschaft, Industrie und Politik unter besonderer Berücksichtigung der IG Farben, Diss. phil. Marburg 2004 (archiv.ub.uni-marburg.de), zur Berechnung der Getöteten ebd., S. 118.Vgl. Meinen, Wehrmacht, S.12.Regina Mühlhäuser, Eroberungen. Sexuelle Gewalttaten und intime Beziehungen deutscher Soldaten in der Sowjetunion 1941-1945, Hamburg 2010, S. 226.Vgl. Meinen, Wehrmacht, S.12.Vgl. Michael Kißener, Boehringer Ingelheim im Nationalsozialismus. Studien zur Geschichte eines mittelständischen chemisch-pharmazeutischen Unternehmens, Stuttgart 2015 (= Historische Mitteilungen, Beihefte 90), S. 205 f.DGIM-Geschäftsstelle Wiesbaden, Akte Handloser, Oehme an Kauffmann, 1.6.1949, Durchschrift.DGIM-Geschäftsstelle Wiesbaden, Akte Bickenbach, Kauffmann an Berg, 30.3.1954.DGIM-Geschäftsstelle Wiesbaden, Akte Handloser, DGIM an McCloy, 10.6.1950, Durchschrift.DGIM-Geschäftsstelle Wiesbaden, Akte Handloser, Handloser an Hertleben, 25.3.1951.DGIM-Geschäftsstelle Wiesbaden, Akte Handloser, Kauffmann an Handloser, 20.2.1954, Durchschrift.DGIM-Geschäftsstelle Wiesbaden, Akte Handloser, Kauffmann an Elli Handloser, 15.7.1954, Durchschrift.Heinrich Pette, Eröffnungsansprache, in: Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin 61 (1955), S. 1 f.

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