Hans Hirschfeld wuchs als Sohn des jüdischen Kaufmanns Seelig Hirschfeld und seiner Ehefrau Gittel (Henriette) geb. Eppenstein in Berlin auf. Nach seinem Abitur am Lessing-Gymnasium nahm er 1891 ein Medizinstudium an der Friedrich-Wilhelm-Universität auf. 1897 wurde er dort approbiert und im selben Jahr am Pathologischen Institut Rudolf Virchows unter Oscar Israel (1854–1907) mit einer Arbeit zur Morphologie der Leukozyten promoviert.1 Für seine Dissertation erhielt er eine Auszeichnung der Padersteinschen Stiftung.2
Seine ärztliche Assistenzzeit verbrachte Hirschfeld bei Alfred Goldscheider (1858–1935) und Georg Klemperer (1865–1946) am Krankenhaus Moabit. Hirschfeld erwarb sowohl den Facharzt für Innere Medizin als auch die Weiterbildung für Neurologie. Anschließend ließ er sich mit einer Praxis in unmittelbarer Nähe zum Krankenhaus nieder (Alt-Moabit 110). Als Klemperer 1910 nebenamtlich die Leitung des Instituts für Krebsforschung an der Charité übernahm, machte er Hirschfeld zum Leiter des Labors und später auch zu seinem für die ambulante Patientenbetreuung zuständigen Assistenten. Auf diese Weise geriet Hirschfeld ins Arbeitsumfeld Artur Pappenheims (1870–1916), mit dem ihm ein ausgeprägtes Forschungsinteresse an hämatologischen Fragestellungen verband. Gemeinsam mit Theodor Brugsch (1878–1963) und Ernst Grawitz (1860–1911) gründeten sie 1908 die Berliner Hämatologische Gesellschaft.3
Forschung am Institut für Krebsforschung in Berlin
1917 wurde Ferdinand Blumenthal (1870–1941) neuer Leiter des Krebsforschungsinstituts. Unter ihm wurde das Institut ausgebaut, modernisiert und in seinem Ruf als international anerkannte Forschungseinrichtung gestärkt. Hirschfeld, der sich 1918 mit einer Arbeit über die perniziöse Anämie habilitiert hatte und 1922 zum außerordentlichen Professor ernannt worden war, erhielt am Institut eine eigene Abteilung für Hämatologie und Histologie.4 Sie wurde zum Anziehungspunkt vieler Wissenschaftler, auch aus dem Ausland.
Hirschfelds Forschungen umfassten das gesamte Spektrum der Hämatologie. Besondere Schwerpunkte waren die Differenzierung von Leukämien, die Milzfunktion und labordiagnostische Methoden. Viele seiner histologischen und hämatologischen Untersuchungen griffen auf entsprechende Grundlagenforschung Virchows, Ehrlichs und Pappenheims zurück und entwickelten diese weiter. Unter anderem wies Hirschfeld den Zusammenhang von Howell-Jolly-Körperchen und Asplenie nach.5 Als wichtiges Verdienst galt auch sein Bestreben nach einer klar verständlichen Nomenklatur innerhalb der Hämatologie. Neben der Forschung blieb Hirschfeld stets auch klinisch tätig und führte als einer der Ersten in Deutschland die patientenschonende Feinnadelpunktion von Geschwulsten ein.6
Hirschfeld veröffentlichte insgesamt über 160 Fachaufsätze. 1918 erschien sein „Lehrbuch der Blutkrankheiten für Ärzte und Studierende“, das auch international Anerkennung fand und 1928 in einer zweiten Auflage gedruckt wurde.7 Als Pappenheim verstarb, gab Hirschfeld dessen „Haematologische Bestimmungstafeln“ heraus.8 Gemeinsam mit Anton Hittmair (1892–1986) war Hirschfeld zudem Herausgeber des „Handbuch der allgemeinen Hämatologie“ (1932–34), einer vierbändigen, mehr als 3000 Seiten umfassenden Gesamtschau der noch jungen Fachdisziplin.
Ein ihm besonders wichtiges Projekt waren die Folia Haematologica. 1904 von Pappenheim als erste internationale Fachzeitschrift für Hämatologie gegründet, war Hirschfeld darin nicht nur mit zahlreichen eigenen Beiträgen vertreten, sondern er gehörte auch dem Redaktionsteam an. Nach dem Tod Pappenheims 1916 führte er die Zeitschrift weiter und war ab 1920 neben Otto Naegeli (1871–1938) und Hal Downey (1877–1959) ihr Mitherausgeber und hauptsächlicher Redakteur.
Durch seine Forschungen und Fachbeiträge hatte sich Hirschfeld um 1930 den Ruf als führender Vertreter der Hämatologie in Deutschland erarbeitet und zählte international zu den anerkanntesten Experten seines Fachs.9
Repressionen durch das nationalsozialistische Regime
Am 24. November 1903 heiratete Hirschfeld Rosa Todtmann (1875–1948). Das Paar bekam zwei Töchter, Ilse (*1904) und Käthe (*1906). Die Familie ließ sich 1908 zusammen mit Rosas Schwester Else in der Dankes-Kirche Berlin evangelisch taufen.10 Dennoch galten Hirschfeld und seine Familie in den Augen der Nationalsozialisten als „jüdisch“ und wurden so zu Opfern der antisemitischen NS-Politik.
Am 1. April 1933 hinderte eine Gruppe von NS-Unterstützern im Rahmen des sog. „Judenboykotts“ Hirschfeld und zahlreiche weitere jüdische Ärztinnen und Ärzte daran, ihre Arbeitsplätze an der Charité zu erreichen. Rund einen Monat später, am 5. Mai 1933, wurde Hirschfeld formal beurlaubt. Im September 1933 wurden ihm im Zuge von §3 des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ Lehrbefugnis und Stelle aufgekündigt.11 Kurz zuvor hatte Hirschfeld noch seinen Cousin, den Chemiker und Geschäftsführer der Ruilos GmbH, Georg Eppenstein (1867–1933) betreut, der im Juni 1933 im Rahmen der sog. „Köpenicker Blutwoche“ von SA-Mitgliedern so brutal gefoltert worden war, dass er im August 1933 in der Charité an den Folgen verstarb.12
1936 erteilten die nationalsozialistischen Behörden Hirschfeld ein Publikationsverbot.13 Als ihm 1938 auch die Approbation entzogen wurde, arbeitete er fortan als „jüdischer Krankenbehandler für jüdische Patienten“. Durch die Aufhebung jüdischer Mietverträge im selben Jahr wurden Hirschfeld und seine Frau gezwungen, ihre Wohnung in Alt-Moabit 110 zu verlassen. Das Paar bezog eine Wohnung im ersten Stock des Gartenhauses Droysenstraße 18, wo Hirschfeld vermutlich auch praktizierte. Er nahm eine Stelle am Jüdischen Krankenhaus bei Hermann Strauß (1868–1944) an und wurde Leiter des dortigen chemisch-serologisch-bakteriologischen Labors. 1940 wurde das Vermögen der Familie erhoben und zugunsten des „Dritten Reichs“ eingezogen.14
Späte Emigrationspläne
Hirschfeld schätzte den Nationalsozialismus als eine vorübergehende Erscheinung ein.15 Trotz der immer stärkeren Einschränkungen im öffentlichen und beruflichen Leben lehnte er Stellenangebote aus dem Ausland ab. Zwar lag der Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler in London eine Anmeldung von Hirschfeld vor und die List of Displaced German Scholars führte ihn ab 1934 am Jewish Hospital in Buenos Aires, doch kam es zur Emigration nach Südamerika nicht.16 Vor allem durch seine Position als Mitherausgeber der Folia Haematologica fühlte Hirschfeld sich vor nationalsozialistischen Angriffen geschützt. Als man ihn nach dem Tod Otto Naegelis 1938 zwang, die Redaktion der Fachzeitschrift aufzugeben, setzte ihm das sehr zu.17 Ab diesem Zeitpunkt unternahm Hirschfeld ernsthafte, jedoch erfolglose Bemühungen um eine Emigration. Seine Bittschreiben um Anstellung bei Instituten in London, New York und Oslo blieben ohne positive Antwort.18
Nachfolger bei den Folia Haematologica wurde Viktor Schilling (1883–1960). Über die Hintergründe der Demission Hirschfelds wurde die Leserschaft nicht informiert.
Fachpolitische Ausgrenzungen
1937 wurde auf Initiative von Viktor Schilling, Werner Schultz (1878–1944) und Hans Schulten (1899–1965) in Bad Pyrmont die Deutsche Hämatologische Gesellschaft gegründet und wenige Monate später die erste Internationale Hämatologentagung in Münster und Bad Pyrmont durchgeführt. Schilling, der seit 1934 in Münster Leiter der Medizinischen Klinik in Nachfolge von Paul Krause (1871–1934) war, übernahm den Vorsitz der Tagung. Hirschfeld hingegen wurde weder eingeladen noch wurde sich nach ihm oder anderen jüdischen Kolleginnen und Kollegen öffentlich dokumentiert erkundigt. In seiner Eröffnungsansprache, die einen historischen Abriss zur Hämatologie einschloss, erwähnte Schilling ihn beiläufig.19 Insgesamt verlief die Tagung im Sinne der nationalsozialistischen Linie.20
Nach 1933 führte die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin Hirschfeld nicht mehr als Mitglied. Die Deutsche Medizinische Wochenschrift, einer der häufigsten Publikationsorte Hirschfelds, druckte ebenfalls ab 1933 keine seiner Arbeiten mehr.
Deportation und Tod in Theresienstadt
Am 30. Oktober 1942 wurde das Ehepaar Hirschfeld mit dem Transport I/74 Nr. 9464 von Berlin nach Theresienstadt deportiert.21 Letzte Vermögensbestände wurden als „Heimeinkauf“ eingezogen. Die Töchter waren bereits in den 1930er Jahren ausgewandert und überlebten den Holocaust im amerikanischen bzw. englischen Exil.22 In Theresienstadt nahm Hirschfeld eine konsiliarische Tätigkeit im chemisch-medizinischen Zentrallabor des Ghettos an und veranstaltete Kurse zur Hämatologie im von jüdischen Ärztinnen und Ärzten eigens initiierten Fortbildungsprogramm. Am 26. August 1944 starb Hirschfeld im Alter von 72 Jahren; die genauen Umstände sind nicht bekannt.23 Seine Leiche wurde zwei Tage später im Krematorium verbrannt. Ehefrau Rosa überlebte und emigrierte nach England zu ihrer Tochter Käthe. Sie starb 1948.
Nachgeschichte: Verdrängung, Aufarbeitung, Gedenken
Trotz seiner internationalen Reputation blieb Hirschfeld nach 1945 zunächst weitestgehend vergessen und verdrängt. Von inländischen Autoren wurde er im Gegensatz zum Ausland kaum zitiert.24 Auch in der Zweitauflage des mit Anton Hittmair herausgegebenen „Handbuch der Allgemeinen Hämatologie“ 1957–69 wurde Hirschfeld nicht mehr genannt. Mitherausgeber war nun Ludwig Heilmeyer (1899–1969), der für die erste Auflage bereits Beiträge verfasst hatte. 1948 erschien ein kurzer Nachruf Hittmairs in der Amerikanischen Fachzeitschrift „Blood“.25 Schilling, mittlerweile Ordinarius in Rostock, bedachte ihn in der ersten Nachkriegsausgabe der Folia Haematologica in einem Sammelnachruf. Darin würdigte er Hirschfeld als „Klassiker“ und sprach von dessen „erschütternden Schilderungen des Konzentrationslagers Theresienstadt“; sein Verdienst für die Folia Haematologica blieb unerwähnt.26
Erst 1986 fand eine Gedenkveranstaltung statt, der auch der Chefredakteur der Folia Haemotologica beiwohnte und die Teil einer umfangreichen Aufarbeitung des Schicksals Hirschfelds wurde. In der Folge führten Folia Haematologica in den letzten Jahren bis zur Einstellung der Zeitschrift 1990 seinen Namen wieder auf der Titelseite. Die Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie (DGHO) würdigte Hirschfeld 2012 auf ihrem 75. Jubiläumskongress mit einer Ausstellung und einer ausführlichen Dokumentation.27
Zum Gedenken an Hans Hirschfeld wurde am 17. März 2011, unterstützt durch die DCHO, ein Stolperstein vor seinem letztem Wohnhaus in der Droysenstr. 18 (Charlottenburg) verlegt.28
Die Universität Ulm benannte am 4. Oktober 2021 einen Platz am Eingang des Campus nach Hans Hirschfeld, um an ihn und sein Schicksal zu erinnern.29