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Medizinisches Unrecht

Johann Reinhardt

geb. am 23.06.1913 in Unterlauterbach

Einer der insgesamt 44 KZ-Häftlinge, die im KZ Dachau 1944 zu Salzwasser-Trinkversuchen unter der Verantwortung der DGIM-Mitglieder Wilhelm Beiglböck und Hans Eppinger herangezogen wurden, war der Musiker Johann Reinhardt. Er gehörte einer christlichen Konfession an. Seine Dachauer Häftlingsnummer 91160 ist bekannt. Der in den Akten diskriminierend als „arbeitsscheuer Zigeuner“ bezeichnete Rom oder Sinto kam am 17. April oder am 3. August 1944 vom KZ Auschwitz ins KZ Buchenwald, später ins KZ Dachau. Nach dem Humanexperiment wurde Reinhardt in die Konzentrationslager Neuengamme (Hamburg) und Mittelbau-Dora verbracht.1

Das Humanexperiment

Die Salzwasser-Trinkversuche im KZ Dachau standen unter direkter Verantwortung des DGIM-Vorsitzenden Hans Eppinger und seines Assistenten Wilhelm Beiglböck, später auch DGIM-Mitglied. Bei einer wichtigen Vorbesprechung war auch der Berliner Pharmakologe Wolfgang Heubner, ebenfalls DGIM-Mitglied, anwesend.

Schließlich stimmte SS-Chef Heinrich Himmler den Humanexperimenten mit KZ-Häftlingen zu.2 40 Roma und Sinti mit der Häftlingsbezeichnung ASR („Arbeitsscheu Reich“) wurden in der Folge als Versuchspersonen aus Buchenwald nach Dachau verbracht. Hinzu kam eine zweite Gruppe, die aus vier bereits in Dachau inhaftierten Sinti bestand. Höhere Zahlenangaben sind wahrscheinlich darauf zurückzuführen, dass einige ursprünglich vorgesehene Versuchspersonen aufgrund ihres Gesundheitszustandes ausgemustert wurden.3

Beiglböck berichtete während des Nürnberger Ärzteprozesses, zunächst hätten sämtliche Versuchspersonen zehn Tage lang „volle Fliegerverpflegung“ (3000 Kalorien) erhalten. Anschließend habe eine Gruppe hungern und dürsten müssen, während die anderen Gruppen die Seenotverpflegung der Luftwaffe hätten essen dürfen. Eine Gruppe musste täglich einen halben Liter Meerwasser mit dem Zusatzstoff Berkatit trinken, eine weitere einen ganzen Liter. Eine andere Gruppe hatte das gemäß dem IG-Farben-Verfahren behandelte Seewasser zu trinken. Eine Kontrollgruppe durfte gewöhnliches Trinkwasser in beliebiger Menge zu sich nehmen.4

Der Zeitzeugenbericht von Karl Höllenreiner

Einer der 40 aus Buchenwald nach Dachau verlegten KZ-Häftlinge, Karl Höllenreiner, schilderte 1947 den Versuch aus Opferperspektive: „Gruppe 2 erhielt nur chemisch präpariertes Seewasser, welches eine dunkel-gelbe Farbe hatte und bestimmt noch viel schlimmer war als reines Seewasser. […] Ich gehörte zu Gruppe 2. [...] Der Doktor der Luftwaffe war immer anwesend, während das Wasser getrunken wurde. […] Während dieser Experimente hatte ich furchtbare Durstanfälle, fühlte mich sehr krank, verlor stark an Gewicht und zum Schluss bekam ich Fieber und fühlte mich so schwach, dass ich mich nicht mehr auf den Beinen halten konnte. [...] Ich erinnere mich noch genau an eine Szene, wo ein tschechoslowakischer Zigeuner den Doktor der Luftwaffe gebeten hat, dass er unmöglich noch mehr Wasser trinken könnte. Dieser tschechoslowakische Zigeuner wurde daraufhin auf Anordnung von dem Doktor der Luftwaffe an ein Bett festgebunden, der Doktor der Luftwaffe goss diesem Zigeuner persönlich mittels einer Magenpumpe gewalttätig das Seewasser herunter. Während der Experimente erhielten die meisten Zigeuner Leber- und Rückenmarkpunktionen. Ich selbst habe eine Leberpunktion erhalten und weiß aus meiner eigenen Erfahrung, dass diese Punktionen furchtbar schmerzhaft waren. Noch heute, wenn das Wetter wechselt, fühle ich starke Schmerzen, wo die Leberpunktion durchgeführt wurde. Alle Leber- sowie Rückenmarkpunktionen wurden von dem Doktor der Luftwaffe persönlich durchgeführt. [...] Auf Befehl des Doktors der Luftwaffe wurden zwei tschechischen Zigeunern [sic], welche sich etwas frisches Wasser beschafft hatten, zur Strafe während der weiteren Durchführung der Experimente ständig auf ihren Betten mit Stricken festgebunden gehalten. Die meisten Zigeuner bekamen Wahnsinnsanfälle […]. Wenn solche Anfälle in Gegenwart des Doktors der Luftwaffe geschahen, lachte dieser nur ironisch und wenn es ihm zu schlimm wurde, gab es Leberpunktionen, worauf der Betroffene etwas ruhiger wurde. Niemand wurde jemals von den Experimenten befreit, nachdem er einen solchen furchtbaren Anfall mitgemacht hat. Ungefähr zwischen der ersten und zweiten Woche der Experimente wurden alle Zigeuner auf Tragbahren mit weißen Tüchern überdeckt aus dem Krankenzimmer heraus in den Hof getragen. Hier wurden die nackten Körper fotografiert in der Anwesenheit des Doktors der Luftwaffe, welcher die ironische Bemerkung machte, daß die Leute lachen sollten, damit die Bilder freundlicher aussehen würden. Kurz nach den Aufnahmen wurden uns Nummern auf die Brust tätowiert. Diese Tätowierung wurde von dem Doktor der Luftwaffe persönlich durchgeführt. Er benutzte dazu eine chemische Flüssigkeit, welche entsetzlich brannte. […] Von den ursprünglich 40 hat einer, wie bereits erwähnt, die Versuche nur wenige Tage mitgemacht. Drei waren so dem Tode nah, dass man sie am selben Abend auf Tragbahren, mit weißen Tüchern abgedeckt, herausgetragen hat. Von diesen drei habe ich niemals wieder etwas gehört.“5

Eindeutige Belege für den Tod von Menschen „während der Experimente oder in deren Folge“ sind bislang nicht aufgefunden worden.6 Drei der während des Humanexperiments Malträtierten starben jedoch noch in der NS-Zeit.7


Quellennachweise

Paul Weindling, „Unser eigener ‚österreichischer Weg‘“: Die Meerwasser-Trinkversuche in Dachau 1944, in: Herwig Czech/Paul Weindling, Österreichische Ärzte und Ärztinnen im Nationalsozialismus, Wien 2017 (= Jahrbuch des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes 2017), S. 133–177, S. 176 (www.doew.at).Vgl. Alexander Mitscherlich/Fred Mielke, Medizin ohne Menschlichkeit. Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses, 18. Aufl. Frankfurt am Main 2012, S. 80.Vgl. ausführlich Weindling, Weg, S. 147 f.; Ralf Forsbach/Hans-Georg Hofer, Internisten in Diktatur und junger Demokratie. Die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin 1933–1970, Berlin 2018, S. 157 ff.Archiv des Vogelsang-Instituts Wien, Nachlass Gustav Steinbauer, Fragen und Antworten Beiglböck; vgl. Mitscherlich/Mielke, Medizin, S. 81.Höllenreiner am 17. Juni 1947 während des Nürnberger Ärzteprozesses, hier zit. n. Ernst Klee, Auschwitz, die NS-Medizin und ihre Opfer, 4. Aufl. Frankfurt am Main 1997, S. 247 ff. – Vgl. ebd. weitere Beiglböck belastende Aussagen auch anderer Zeugen. Vgl. auch die Darstellung in Weindling, Weg, S. 147 ff.Weindling, Weg, S. 135; vgl. ebd., S. 153.Vgl. Weindling, Weg, S. 155; Paul Weindling, Victims and Survivers of Nazi Human Experiments. Science and Suffering in the Holocaust, London u.a. 2015. S. 134.

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