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Alfred Schwenkenbecher

geb. am 12.09.1875 in Erfurt
gest. am 08.03.1963 in Marburg

Mitglied der DGIM bis 1963

Der am 12. September 1875 in Erfurt geborene Friedrich Alfred Schwenkenbecher war der Sohn des Geheimen Sanitätsrats Gustav Schwenkenbecher und dessen Frau Rosa Stoltz. 1894 bestand er am Königlichen Gymnasium zu Erfurt das Abitur. Sechs Jahre später wurde er in Marburg mit einer Arbeit zur „Nährwerthberechnung tischfertiger Speisen“ zum Dr. med. promoviert, nachdem er zuvor auch in Jena, Göttingen und München studiert hatte. In der Folgezeit erschienen seine in dem Buch „Nährstoffgehalt und Nährwert von Speisen. Zur Berechnung von Kostenverordnungen“ zusammengefassten Erkenntnisse bis 1942 in elf Auflagen.

Seit dem Staatsexamen 1899 war Schwenkenbecher Assistent an der Medizinischen Poliklinik Marburg unter Friedrich Müller, dann in Greifswald (1900–1902) und Tübingen (1902–1904), wo er sich 1904 für Innere Medizin habilitierte. 1904 wechselte er als Privatdozent nach Straßburg, 1907 nach Heidelberg zu Ludolf Krehl, dessen Schwiegersohn er wurde. Noch im selben Jahr gelangte er als außerordentlicher Professor an die Universität Marburg, wo er zum Direktor der Medizinischen Poliklinik und 1908 zum Leiter des Pharmakologischen Instituts bestellt wurde.1

1909 folgte Schwenkenbecher dem Ruf nach Frankurt am Main. Hier war er Direktor der Medizinischen Klinik des Städtischen Krankenhauses und seit 1914 ordentlicher Professor und Direktor der Medizinischen Klinik der Universität Frankfurt. 1920 wechselte er nach Marburg und wurde dort ordentlicher Professor, Direktor der Medizinischen Klinik der Universität Marburg und Leiter der Medizinischen Poliklinik. In Marburg war er 1921/22 Dekan, 1922/23 Rektor und 1924/25 Prorektor.

Bekenntnis zum Nationalsozialismus

Schwenkenbecher trug zur Etablierung des NS-Systems bei. Nach früheren Mitgliedschaften in der Nationalliberalen Partei und der Deutschen Volkspartei wurde Schwenkenbecher im „Dritten Reich“ Mitglied der NSDAP und trat öffentlich durch die Unterzeichnung des „Bekenntnisses der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat“ vom 11. November 1933 in Erscheinung. Während des Zweiten Weltkriegs war er Beratender Internist der Wehrmacht.

Innerhalb der DGIM gehörte Alfred Schwenkenbecher zu denjenigen, die durch Kooperationen „mit anderen, der Inneren Medizin nahe stehenden Ge­sellschaften“ der als ungut empfun­denen Entfremdung immer mehr Spezialfächer von der Inneren Medizin als Kernfach entgegenwirken wollten. Er „werde alles tun“, so erklärte er 1935, im Jahr darauf eine gemeinsame Tagung zu ermöglichen und nahm insbesondere die „Gesellschaft für Kreislaufforschung“, die „Gesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten“ (GVS) und die „Gesellschaft für Kinderheilkunde“ in den Blick.2 Realisiert wurde ein gemeinsamer Wiesbadener Kongress mit der „Deutschen Röntgengesellschaft“ und – politisch wirkungsmächtiger – der „Reichsarbeitsgemeinschaft für eine Neue Deutsche Heilkunde.“3

Kongress im Zeichen der „Neuen Deutschen Heilkunde“

Schwenkenbecher verfuhr anders als seine unmittelbaren Vorgänger bei der Themenfindung für den Kongress von 1936 mit großer Offenheit. Ohne eigene Ideen zu unterbreiten, bat er die Teilnehmer der traditionell mit der Programmplanung befassten Zweiten Ausschusssitzung des Vorjahrs um Vorschläge. Alfred Schittenhelm nahm die Gelegenheit wahr, im Sinne von Reichsärzteführer Gerhard Wagner das Wort zu ergreifen und für die Berücksichtigung der „Biologischen Medizin“ zu plädieren. Dem entsprach Schwenkenbecher, zumal es seit Oktober 1935 zu massiven Interventionen von Regierungs- und Parteistellen gekommen war, weil man eine zu geringe Berücksichtigung der Neuen Deutschen Heilkunde auf dem Kongress befürchtete.

Infolgedessen ist der von Schwenkenbecher geleitete Wiesbadener Kongress von 1935 als besonders NS-nah in Erinnerung geblieben. Er gilt als „einziger propagandistischer Höhepunkt“ der „Neuen Deutschen Heilkunde“, deren Bedeutung für den Nationalsozialismus bald wieder abnahm, weil man angesichts der Kriegsvorbereitungen an einer effizienten (Kriegs-)Medizin interessiert war.4 Die „Reichsarbeitsgemeinschaft für eine Neue Deutsche Heilkunde“ löste sich auf.5

Alfred Schwenkenbecher hielt zu Beginn des Kongresses eine im Ganzen devote Begrüßungsrede. Der Reichsarbeitsgemeinschaftsführer Kurt Kötschau konnte auf der Eröffnungsveranstaltung ebenso sprechen wie Reichsärzteführer Gerhard Wagner.

Scheinbare Internationalität im Olympiajahr

Gleichwohl blieb Schwenkenbecher vergleichsweise defensiv.6 Hatte er schon Programmvorschläge anderen überlassen und zunächst nicht mit dem erwarteten Engagement im nationalsozialistischen Sinne umgesetzt, so betonte er in seiner Rede zur Eröffnung des DGIM-Kongresses in auffallender Weise internationale Elemente. Dies stand zu diesem Zeitpunkt nicht im Widerspruch zum strategischen Vorgehen des Regimes, das seinerseits im Olympiajahr 1936 mit den Spielen in Garmisch-Partenkirchen und Berlin um Anerkennung des Auslands buhlte. Ausdrücklich grüßte und dankte Schwenkenbecher den aus dem Ausland nach Wiesbaden gekommenen Kollegen, um fortzufahren: „Vor wenigen Monaten haben wir in Deutschland voller Begeisterung die Winterolympiade erlebt und dabei feststellen können, wie stark der Sport und die hohe Freude an ihm und einer herrlichen Natur freundschaftliche Empfindungen zwischen den Vertretern der verschiedenen Nationen weckt und neu belebt. Ganz das gleiche gilt von dem edlen Wettstreit, an dem die Geistesarbeiter aller Kulturstaaten ständig beteiligt sind. Lassen Sie uns auch diese Tagung dazu benutzen, in lebendigem Austausch der Gedanken alte Beziehungen jung zu halten und neue Bande zu knüpfen, zur Förderung unserer Wissenschaft, zum Heile unserer Völker.“7

Ferner als die ausländischen Kollegen schienen Schwenkenbecher die Anhänger der Neuen Deutschen Heilkunde zu sein, die, wie er betonte, „auf Wunsch des Herrn Reichsärzteführers“ zu Gast seien, „mit dem Zielgedanken der Einigung zwischen Gruppen deutscher Ärzte, die therapeutisch verschieden gerichtet seit langer Zeit getrennt ihre Wege ziehen.“8 Beinahe pastoral wirkte der als Appell aufzufassende Satz: „Es soll hier Gelegenheit gegeben werden, einander kennenzulernen, der Boden soll geschaffen werden für ein besseres gegenseitiges Verständnis und die persönliche Achtung gegenüber den Andersdenkenden.“9 Als hilfreich erwähnte Schwenkenbecher in diesem Zusammenhang das wenige Monate zuvor von den beiden Hauptreferenten Louis Grote und Alfred Brauchle herausgegebene Buch „Gespräche über Schulmedizin und Naturheilkunde“, das die Standpunkte beider Seiten zusammenführen sollte.10 Die Homöopathie fand zurückhaltend, aber nicht ablehnend Erwähnung: Unter Berufung auf den DGIM-Vorsitzenden von 1924, Max Matthes, fragte Schwenkenbecher: „Hat nicht Matthes Recht behalten, wenn er 1925 in einem Vortrag über die Homöopathie gegen uns seine Stimme warnend erhob und unsere therapeutische Vielgeschäftigkeit, insbesondere die übertriebene Anwendung der intravenösen Einspritzung mit dem Aderlaß zu Zeiten Hahnemanns verglich?“11

Verständnis für Methoden jenseits der „Schulmedizin“

Auf diese Weise bemühte sich Schwenkenbecher, Verständnis für alternative Therapieformen zu wecken. Gegensätze suchte er einzuebnen („Wahre Naturheilkunde […] gehört zum therapeutischen Rüstzeug jeden Arztes“), Schwächen der Schulmedizin in den Krankenhäusern erkannte er an („zu wenig […] Luft und Sonne“).12 Dem DGIM-Vorsitzenden mag es so gelungen sein, Kritik an für unwissenschaftlich gehaltenen, von der NS-Politik aber unterstützen Therapien einzudämmen. An der Ergebenheit der DGIM gegenüber dem NS-Staat ließ Schwenkenbecher sowieso keinen Zweifel. Er würdigte die neue Reichsärzteordnung mit ihrem Auftrag, dem Volk „nicht nur als Arzt, sondern auch als sein Erzieher und Berater […] zu dienen“, und feierte, dass die Kongresseröffnung „am Geburtstage unseres allverehrten Führers Adolf Hitler“ stattfand.13

Der Manifestation der Hitler-Treue diente das 1936 nun schon traditionelle „Telegramm an den Führer“, das die in Wiesbaden Versammelten nach Berlin schickten. In ihm findet sich 1936 ein Bekenntnis zur NS-Medizin: „Die zu gemeinsamer Tagung in Wiesbaden zusammengetretenen Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin und der Reichsarbeitsgesellschaft für eine „Neue Deutsche Heilkunde“ haben sich am Geburtstage des Führers und Retters unseres Volkes auf dem Boden einer deutschen Heilkunde zusammengefunden, die die medizinische Wissenschaft mit der Volksmedizin zu einer Einheit verbinden soll.“14

Ausschluss von Julius Bauer

Auch in anderer Hinsicht erwies sich Schwenkenbecher als Vollstrecker nationalsozialistischer Willensbekundungen. Seine Unterschrift steht unter dem Dokument, das den Ausschluss von Ausschussmitglied Julius Bauer aus der DGIM besiegelte.15 Bauer hatte von Wien aus in der Schweizer Medizinischen Wochenschrift wie schon zuvor in der Wiener Medizinischen Wochenschrift die NS-Rassenhygiene als wissenschaftlich unhaltbar vorgeführt.16 In dem scharf luziden Artikel Bauers wurden Irrtümer und Widersprüchlichkeiten von Vertretern der NS-Rassenhygiene wie Hans Günther und Otmar von Verschuer offen gelegt und die Praktikabilität des 1934 in Deutschland in Kraft getretenen Zwangssterilisierungsgesetzes in Frage gestellt. Reichsärzteführer Gerhard Wagner ächtete Bauer öffentlich. Die DGIM folgte widerspruchslos. Zur Eröffnung der Ausschusssitzung am 12. April 1936 erklärte Schwenkenbecher den Hinauswurf des Kollegen damit, dass „dieser in der Schweizerischen medizinischen Wochenschrift einen Artikel veröffentlicht hat, an dem die Deutsche Ärzteschaft Anstoss genommen hat.“17

Nach der Eingliederung Österreichs in das Deutsche Reich 1938 floh der nun von der Universität Wien entlassene Bauer über Frankreich in die USA. Er konnte Professuren an der Louisiana State University (New Orleans), der kalifornischen Loma Linda University und an der University of Southern California in Los Angeles übernehmen. 1979 starb er im Alter von 91 Jahren in Beverly Hills.18

Julius Bauer hatte getan, was der DGIM hätte zur Ehre gereichen können. Zum richtigen Zeitpunkt wusste er angemessene Worte zu formulieren, um die Unmenschlichkeit sowie die unzureichende wissenschaftliche Fundierung der NS-Gesetzgebung zur Zwangssterilisierung zu entlarven. Die DGIM und Schittenhelm aber stellten sich nicht vor ihr klar denkendes Mitglied, sondern folgten Reichsärzteführer Wagner und der Propagandamaschinerie der Diktatur.

In der Nachkriegszeit galt Schwenkenbecher dennoch als so vertrauenswürdig, dass er 1945 mit den Funktionen eines Verwaltungsdirektors der Universitätsfrauenklinik Marburg betraut wurde. Bis 1949 behielt er einen Lehrauftrag für Innere Medizin und blieb kommissarischer Direktor der Medizinischen Klinik Marburg. 1956 wurde Schwenkenbecher DGIM-Ehrenmitglied. Diese Ehrenmitgliedschaft wurde ihm 2021 wieder aberkannt. Am 8. März 1963 starb er in Marburg und wurde auf dem dortigen Hauptfriedhof beigesetzt.19


Quellennachweise

Archiv der Philipps-Universität Marburg, Personalakte Schwenkenbecher 210-7608; Archiv der Goethe-Universität Frankfurt am Main, Eigenhändiger Lebenslauf Schwenkenbechers im 1915 angelegten Fakultätsalbum an der Frankfurter Universität. Vgl. Anonymus, Schwenkenbecher, Friedrich Alfred, in: Hessische Biografie (www.lagis-hessen.de), Gerhard Aumüller/Kornelia Grundmann/Esther Krähwinkel/Hans H. Lauer/Helmut Remschmidt (Hg.), Die Marburger Medizinische Fakultät im „Dritten Reich“, München 2001 (= Academia Marburgensis, 8), passim).DGIM Wiesbaden, Protokollbuch der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin, 1931–1938, Zweite Ausschusssitzung, 27.3.1935.A.[lfred] Schwenkenbecher, Begrüßungsansprache, in: Verhandlungen 48 (1936), S. 1–11, S. 1.Aumüller u.a., Die Marburger Medizinische Fakultät, S. 389.Vgl. ausführlich Alfred Haug, Die Reichsarbeitsgemeinschaft für eine Neue Deutsche Heilkunde (1935/36). Ein Beitrag zum Verhältnis von Schulmedizin, Naturheilkunde und Nationalsozialismus, Husum 1985 (= Abhandlungen zur Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften, 50), passim.Vgl. die ähnliche Bewertung in Aumüller u.a., Medizinische Fakultät, S. 390.Schwenkenbecher, Begrüßungsansprache, S. 1.Schwenkenbecher, Begrüßungsansprache, S. 2.Schwenkenbecher, Begrüßungsansprache, S. 2.Louis. R. Grote/Alfred Brauchle, Gespräche über Schulmedizin und Naturheilkunde, Leipzig 1935.Schwenkenbecher, Begrüßungsansprache, S. 2.Schwenkenbecher, Begrüßungsansprache, S. 3 und 5.Schwenkenbecher, Begrüßungsansprache, S. 10 f.Telegramm an den Führer, in: Verhandlungen 48 (1936), S. 17.Vgl. Julius Bauer, Medizinische Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts im Rahmen einer Autobiographie, Wien 1964, S. 74.Julius Bauer, Gefährliche Schlagworte auf dem Gebiete der Erbbiologie, in: Schweizer Medizinische Wochenschrift 65 (1935), S. 633–635, S. 633. Vgl. Julius Bauer, Erbpathologie und ihre praktischen Konsequenzen, in: Wiener Medizinische Wochenschrift 47 (1934), S. 1317–1318, 1352–1353, 1382–1383.DGIM Wiesbaden, Protokollbuch der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin, 1931–1938, Erste Ausschusssitzung, 19.4.1936.UA Wien, MF, MED PA 30 (Personalakte); vgl. auch Tragl, Chronik, S. 293, Werner Schuder (Hg.), Kürschners Deutscher Gelehrten Kalender, 13. Ausgabe Berlin/New York 1980, S. 151 f.Vgl. Schwenkenbecher, Friedrich Alfred in: Hessische Biographie.

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