Gedenken
&
Erinnern
Emigration

Siegfried Josef Thannhauser

geb. am 28.06.1885 in München
gest. am 18.12.1962 in Brookline/Massachusetts

Mitglied der DGIM 1920 bis 1937

Ernennung zum DGIM Ehrenmitglied 1955

Siegfried Thannhauser war das einzige Kind von Joseph Thannhauser und seiner Frau Lotte Langermann. Die Familie besaß eine Keramik-Manufaktur. 1904 bestand Siegfried Thannhauser die Reifeprüfung am Münchener Luitpold-Gymnasium und begann daraufhin ein Studium der Medizin an der Ludwig-Maximilians-Universität München. 1910 wurde er mit einer Arbeit zur Homogentisinsäure promoviert und approbiert. Auf Drängen Hans Fischers entschloss er sich zu einem Zweitstudium im Fach Biochemie. Dieses beendete er 1912 mit der Promotion zum Dr. phil.

1924 habilitierte sich Thannhauser bei Friedrich von Müller in München. Noch im selben Jahr übernahm er die Leitung der Medizinischen Poliklinik in Heidelberg. 1927 wurde er Direktor der Medizinischen Klinik Düsseldorf. 1930 wechselte der mittlerweile als Spezialist für Stoffwechselkrankheiten hochrenommierte Thannhauser als Nachfolger von Hans Eppinger an die Medizinische Klinik Freiburg.1 Auf der Vorschlagsliste hatte er sich auf Platz 1 vor Wilhelm Nonnenbruch befunden.2

Bald war bekannt, dass er seinen Mitarbeitern größte Forschungsfreiheiten ließ, freilich Publikationen behinderte, wenn ihm die Ergebnisse nicht plausibel waren.3 Die Karrieren ihm geeignet erscheinender Ärzte förderte er, etwa die des späteren Nobelpreisträgers Hans Adolf Krebs.4

Als gewählter Dekan abgesetzt

Im November 1932 wurde er für das Studienjahr 1933/34 zum Dekan gewählt.5 Der „badische Judenerlass“ zur Zwangsbeurlaubung „nichtarischer“ Beamter führte am 12. April 1933 zu Thannhausers Rücktritt als designierter Dekan.6 Aufgrund seines Frontkämpferstatus konnte er seine Beurlaubung zum 28. April 1933 zunächst rückgängig machen, doch nahmen die Schikanen kein Ende. Seine Kolleggeldgarantie wurde von 4000 auf 1000 Mark gekürzt. Der NS-Studentenbundführer denunzierte ihn wegen „staatsfeindlicher Äußerungen“, was zu peinlichen Befragungen führte, ohne dass die Vorwürfe Bestätigung fanden. Die Beschäftigung eines „nichtarischen“ Famulus führte zu einer Zurechtweisung Thannhausers.7

Am 17. April 1934 erfolgte die Beurlaubung „mit sofortiger Wirkung“; es bestehe die Absicht, ihn als „wissenschaftlichen Hilfsarbeiter“ an die Universität Heidelberg zu versetzen. Zugleich wurde ihm der Ruhestand angeboten.8 Deutlich lehnte Thannhauser eine Rückstufung ab und erinnerte an seinen und seiner Familie Einsatz für das Reich im Ersten Weltkrieg.9 Doch seine Argumente fanden keinen Widerhall. Am 13. Juni 1934 sah er sich mit Rücksicht auf seine „Familie veranlasst“, seine „Zuruhestellung zu beantragen“.10

Weder von seinen Fakultätskollegen noch von der DGIM erfuhr er Unterstützung. Lediglich seine Assistenten Hans Baumann und Franz Krause, beide DGIM-Mitglieder, hatten schon im April 1933 in Karlsruhe bei Kultusminister und Staatskommissar Otto Wacker vorgesprochen, um „im Namen der Assistenten der gesamten Klinik zum Ausdruck zu bringen, daß sie volles Vertrauen zu ihrem bisherigen Vorgesetzten, dem jüdischen Professor Dr. Thannhauser […] besäßen, und daß sie darum bäten, daß er […] auch weiterhin der Klinik erhalten bliebe“.11 Ausdrücklich beschwerte sich Thannhauser bei dem Physiologen Josef Kapfhammer, der ihn als Dekan ersetzt hatte: Die Fakultät habe ihn „allein gelassen“.12

Suizidgedanken und Emigration

Der demütigende Umgang traf ihn schwer. Nur aufgrund der Verantwortung für seine Familie unterdrückte er Suizidgedanken.13 Auch „Zeichen ihrer Freundschaft und Sympathie“ von außerhalb der Kollegenschaft mögen dazu beigetragen haben. Der Freiburger Erzbischof Conrad Gröber und badische Adlige gehörten zu denjenigen, die sich nicht von Thannhauser zurückzogen.14 Die Inhaber der „Chemischen Fabrik von H. Rosenberg“ überließen ihm ein Laboratorium zur Nutzung.15

Im Frühjahr 1935 gelang ihm mit seiner auf Emigration drängenden Frau Franziska und den drei Töchtern die Ausreise in die USA, nachdem er die Einladung seines Kollegen Joseph Pratt vom „New England Medical Center“ der Tufts University Boston angenommen hatte.16 Pratt wollte helfen, auch um eine „Dankesschuld“ gegenüber Ludolf von Krehl und Friedrich von Müller abzutragen.17 Von Müller war Pratt seinerseits für die Unterstützung seines von ihm hochgeschätzten Habilitationsschülers dankbar, auch für dessen Fürsorge während einer Erkrankung Thannhausers.18

Als Alternative war Ankara im Gespräch gewesen, doch störte Franziska Thannhauser mit Blick auf ihre Töchter das dortige islamische Umfeld.19 Die Einladungen hatte ihm die Rockefeller Foundation vermittelt, deren Vertreter ihn bei seiner Ankunft im Hafen von New York begrüßten.20 In Boston traf er auch auf das DGIM-Mitglied Heinrich Brugsch; er war als Nephrologe von der Universitätsklinik Leipzig gekommen.21 Seine Forschungen konnte Thannhauser fortsetzen. Das Gerhard Schmidt, ebenfalls Emigrant, unterstellte, aber nicht nach ihm benannte „Thannhauser-Lab“ wurde in Fachkreisen berühmt.22 Er setzte sich mit Hilfe des Bingham Association Fund erfolgreich dafür ein, „die Errungenschaften der neuesten medizinischen Forschungen in den Hospitaelern kleinerer laendlicher Distrikte zur Anwendung zu bringen“.23 Von Boston aus konnte er anderen Emigranten helfen. 1945 stellte er die Dermatologin Bertha Ottenstein an, die erste in Freiburg habilitierte Frau.24

Keine Rückkehr

1940 wurden Thannhauser und seine Familie amerikanische Staatsbürger. „Nicht mehr im dienstpflichtigen Alter“ blieb es ihm „erspart“, „das Schicksal und die Schmach eines vom Teufel verfuehrten Volkes mit eigenen Augen zu sehen“.25 Die schon zeitgenössisch kolportierte Nachricht, Thannhauser sei als beratender Internist der US Army nach München gekommen, scheint falsch.26 Bemühungen von mehreren deutschen Stellen um seine Remigration beantwortete er abschlägig.27 Die Freiburger Medizinische Fakultät hätte ihn gerne als Nachfolger seines eigenen, nun suspendierten Nachfolgers Helmuth Bohnenkamp gesehen; in München warb man um ihn als Nachfolger Schittenhelms, also für jenes Ordinariat, das einst Thannhausers Lehrer Friedrich von Müller bekleidet hatte. Thannhausers Standpunkt war klar: „Ich kann nicht zurueckkehren, die Wunde ist zu tief, sie wird nie heilen. Die Enttaeuschung meines Vertrauens in das Gute im deutschen Menschen, in die Ehrlichkeit meiner Freunde war zu gross. Die Jahre, welche ich noch produktiv arbeiten kann, gehoeren dem Lande, das mich in tiefster Seelennot aufgenommen und gefoerdert hat.“28 Er habe geglaubt, Tausenden in Deutschland „die Liebe zum Menschen als Grundlage zum Arzttum eingeflösst zu haben“, doch sie seien „Henkersknechte“ geworden.29

Seinen Kollegen wurde bewusst, was in der Familie Wollheim, die sich nach dem schwedischen Exil zur Rückkehr nach Deutschland entschloss, in die folgenden Worte gefasst wurde: „Thannhauser war ein trauriger Mann.“30 Die Trauer um die verlorene Heimat aber erfüllte ihn nicht mit Bitterkeit oder Hass. Die Bemühungen in Deutschland, ihn zur Rückkehr zu bewegen, auch die Verleihung des Ehrendoktors an ihn durch die Freiburger und Münchener Fakultät sowie die Neuauflage seines Lehrbuchs beobachtete er mit Genugtuung.31 Er korrespondierte über Jahrzehnte mit einigen deutschen Kollegen, so Martini und Heilmeyer. Noch 1960 berichtete Heimeyer von einem „rührenden Brief“ Thannhausers, der einmal mehr ohne Erfolg nach Freiburg eingeladen worden war: „Er meinte, er würde beim Betreten des Hörsaals hemmungslos seiner Sentimentalität unterliegen und der einst begeisterte und begeisternde Lehrer könne nur weichen und würde ein greisenhaftes Zerrbild seiner selbst geben.“32 Martini tat dies „in der Seele leid, denn er gehört seinem ganzen Wesen nach [nach] Deutschland oder wenn man so will, nach Oberbayern. Mir geht er richtig ab, und uns allen hätte er gut getan.“33

Ehrungen

Die DGIM hatte ihn 1936 letztmalig als Mitglied verzeichnet, erstaunlicherweise unter seiner neuen Bostoner Adresse.34 Siegfried Thannhauser starb im Alter von 77 Jahren nach einem Herzinfarkt.35 Unter Ludwig Heilmeyer wurde 1950 eine Station der Freiburger Klinik nach Thannhauser benannt.36 1964 verlieh ihm die Universität Freiburg den Ehrendoktortitel. Die Deutsche Gesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten verleiht seit 1969 die Thannhauser-Medaille und seit 1973 mit Unterstützung der Falk Foundation den Thannhauser-Preis.37


Quellennachweise

Zum Lebenslauf vgl. Jasmin B. Mattes, Demütigung – Vertreibung – Neuanfang: Aus Freiburg geflohen in alle Welt, in: Bernd Grün/Hans-Georg Hofer/Karl-Heinz Leven (Hg.), Medizin und Nationalsozialismus. Die Freiburger Medizinische Fakultät und das Klinikum in der Weimarer Republik und im „Drit­ten Reich“, Frankfurt am Main u.a. 2002 (= Medizingeschichte im Kontext, 10), S. 161–188, S. 174 ff.; Hermann-Josef Hellmich, Die Medizinische Fakultät der Universität Freiburg i. Br. 1933–1935. Eingriffe und Folgen nationalsozialistischer Personalpolitik, Diss. Freiburg i. Br. 1989, S. 297–304, S. 34 ff.; Nepomuk Zöllner/Alan F. Hofmann, Siegfried Thannhauser (1885–1962). Ein Leben als Arzt und Forscher in bewegter Zeit, 2. neubearb. Aufl. Freiburg i. Br. 2002, passim; Rudolf Nissen, Siegfried Thannhauser 1885–1962, in: ders., Fünfzig Jahre erlebter Chirurgie. Ausgewählte Vorträge und Schriften, Stuttgart/New York 1978, S. 349–351.Vgl. Hellmich, Fakultät, S. 35.Vgl. Frederic Lawrence Holmes, Hans Krebs, Bd. 1, The Formation of a Scientific Life 1900–1933, New York/Oxford 1991, S. 384; Zöllner/Hofmann, Thannhauser, S. 16.Vgl. Holmes, Krebs, Formation I, S. 384.Vgl. Hellmich, Fakultät, S. 40; Annette Schulz-Baldes, Das Jahr 1933. Die Medizinische Fakultät und die „Gleichschaltung“ an der Universität Freiburg, in: Grün/Hofer/Leven, Medizin, S. 139–160, S. 142 u. S. 157.Vgl. Hellmich, Fakultät, S. 37 ff.; Schulz-Baldes, Jahr 1933, S. 157; Eduard Seidler/Karl-Heinz Leven, Die Medizinische Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau. Grundlagen und Entwicklungen, vollst. überarb. u. erw. Neuaufl. Freiburg/München 2007 (= Freiburger Beiträge zur Wissenschafts- und Universitätsgeschichte, N.F., Bd. 2), S. 455.Vgl. zu den Beschuldigungen gegen Thannhauser Mattes, Demütigung, S. 174 ff.; Hellmich, Fakultät, S. 42 ff.Zit. n. Hellmich, Fakultät, S. 46.Vgl. Hellmich, Fakultät, S. 50 f.; Zöllner/Hofmann, Thannhauser, S. 23.Zit. n. Hellmich, Fakultät, S. 52.Seidler/Leven, Fakultät, S. 456.Universitätsarchiv Freiburg, B 171236, Thannhauser an Kapfhammer/Dekan MF, 14.6.1934, zit. n. Mattes, Demütigung, S. 176 u. Hellmich, Fakultät, S. 54.Thannhauser an Dekan Beringer/MF Freiburg, 6.3.1946 (Reproduktion in Hellmich, Fakultät, S. 297–304, S. 297).Vgl. Nissen, Blätter, S. 255; Nissen, Thannhauser, S. 350; Hellmich, Fakultät, S. 57.Nissen, Thannhauser, S. 350.Vgl. Zöllner/Hofmann, Thannhauser, S. 17f., S. 23; Müller, Lebenserinnerungen, S. 223.So jedenfalls Nissen, Thannhauser, S. 349.Vgl. Müller, Lebenserinnerungen, S. 328.Vgl. Zöllner/Hofmann, Thannhauser, S. 23.Thannhauser an Dekan Beringer/MF Freiburg, 6.3.1946 (Reproduktion in Hellmich, Fakultät, S. 297–304, S. 298).Vgl. Zöllner/Hofmann, Thannhauser, S. 17.Vgl. Zöllner/Hofmann, Thannhauser, S. 19.Thannhauser an Dekan Beringer/MF Freiburg, 6.3.1946 (Reproduktion in Hellmich, Fakultät, S. 297–304, S. 299).Vgl. Hellmich, Fakultät, S. 83 ff. u. Mattes, Demütigung, S. 176 u. S. 163 ff.Thannhauser an Dekan Beringer/MF Freiburg, 6.3.1946 (Reproduktion in Hellmich, Fakultät, S. 297–304, S. 300).Vgl. Hellmich, Fakultät, S. 57 und, die Quellen offenbar falsch interpretierend, Mattes, Demütigung, S. 176.Vgl. Hellmich, Fakultät, S. 57; Mattes, Demütigung, S. 176 ff.Thannhauser an Dekan Beringer/MF Freiburg, 6.3.1946 (Reproduktion in Hellmich, Fakultät, S. 297–304, S. 301).Thannhauser an Dekan Beringer/MF Freiburg, 6.3.1946 (Reproduktion in Hellmich, Fakultät, S. 297–304, S. 301); vgl. auch Thannhauser an Rektor Hohmann/München, 10.11.1946 (Teilwiedergabe in: Georg Hohmann, Zum Andenken an Professor Dr. Siegfried Thannhauser, in: Zöllner/Hofmann, Thannhauser, S. 35–39, S. 37).Zeitzeugengespräch Hans-Georg Hofer/Frank Wollheim, 10.3.2017.Zöllner, N.[epomuk], Siegfried J. Thannhauser, in: Deutsche Medizinische Wochenschrift 88 (1963), S. 337-340, S. 340; vgl. Nissen, Blätter, S. 255.MHI Bonn, NL Martini, Nr. 100 (Wissenschaftsrat, Mediziner-Kommission), Heilmeyer an Martini, 11.2.1960.MHI Bonn, NL Martini, Nr. 100 (Wissenschaftsrat, Mediziner-Kommission), Martini an Heilmeyer, 17.2.1960.DGIM, Verhandlungen 48 (1936), S. XLIV.Vgl. Nissen, Thannhauser, S. 349.Vgl. Ludwig Heilmeyer, Siegfried Thannhauser, in: Zöllner/Hofmann, Thannhauser, S. 32–35, S. 34.Vgl. Jenss/Gerken/Lerch, 100 Jahre, S. 40.

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