Gedenken
&
Erinnern
Emigration

Rahel Hirsch

geb. am 15.09.1870 in Frankfurt am Main
gest. am 08.10.1953 in London

Mitglied der DGIM 1913 bis 1932

Rahel Hirsch wurde als sechstes von elf Kindern des jüdischen Lehrers Dr. phil. Mendel Hirsch (1833–1900) und seiner Frau Dorothea geb. Ballin (1843–1914) in Frankfurt am Main geboren.1 Ihr Vater lehrte an der Realschule und Höheren Töchterschule der Israelitischen Kultusgemeinde in Frankfurt. Ihr Großvater, der Reform-Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808–1888), gehörte zu den Begründern der Neo-Orthodoxie, die orthodoxes Leben und Teilhabe an der nicht-jüdischen Umwelt in Einklang brachte. Einer ihrer Neffen war der Frankfurter Internist Samson Hirsch (1890–1960), der ebenfalls emigrieren musste.

Lehrerin und Ärztin

Rahel Hirsch besuchte die Schule ihres Vaters und anschließend ein Lehrerinnenseminar in Wiesbaden, das sie 1889 erfolgreich abschloss. Sie unterrichtete für einige Jahre an ihrer alten Schule, nahm aber 1898 ein Medizinstudium in Zürich auf und erwarb 1899 die schweizerische Maturität. In Deutschland erhielten Frauen erst ab 1900 sukzessive das Immatrikulationsrecht für Medizin. Einige Medizinische Fakultäten erlaubten jedoch die Fortsetzung eines im Ausland begonnenen Studiums sowie die Zulassung zum Staatsexamen. So studierte Rahel Hirsch auch in Leipzig und Straßburg. 1903 absolvierte sie in Straßburg das Staatsexamen, erhielt die deutsche Approbation und wurde unter Franz Hofmeister (1850–1922) mit einer Arbeit zur Glykolyse zum Dr. med. promoviert.2

Unter Friedrich Kraus (1858–1936) erhielt Hirsch eine (unbezahlte) Assistentenstelle an der II. Medizinischen Klinik der Berliner Charité. Sie war damit nach Helenefriederike Stelzner (1861–1937) die zweite an der Charité angestellte Ärztin überhaupt. Hier wurde sie auch wissenschaftlich tätig.

Wissenschaftlerin

1906 konnte Hirsch nachweisen, dass „Stärkekörner“, großkorpuskuläre Partikel aus mehreren Einfachzuckern, durch die Schleimhaut des Dünndarms ins Blut eintreten und über den Harn ausgeschieden werden können.3 Nach damaliger Lehrmeinung waren nur deutlich kleinere Partikel im Darm resorbierbar. Bei einem Vortrag über diesen später „Hirsch-Effekt“ genannten Vorgang erntete sie vor der Gesellschaft der Ärzte der Charité im November 1907 Spott und Hohn.4 Obwohl ihre Versuche 1911 durch den Physiologen Fritz Verzár (1886–1979) bestätigt wurden, erhielten sie erst 1957 mit der experimentellen Wiederholung und Bestätigung durch Theodor Brugschs Assistenten Gerhard Volkheimer (1921–2021) Anerkennung und nachhaltende Würdigung.5

Neben den beschriebenen Resorptionsstudien forschte Hirsch auf weiteren Gebieten der (Patho-)Physiologie, darunter dem Fieber- und Wärmehaushalt, der endokrinen Sekretion und der Nierenphysiologie. Insgesamt veröffentlichte sie ca. 35 wissenschaftliche Arbeiten. Daneben verfasste sie ein „Therapeutisches Taschenbuch der Elektro- und Strahlentherapie“ (1920) sowie Beiträge zu den von Carl Oppenheimer und Kraus und Brugsch herausgegeben Handbüchern zur Biochemie bzw. „Speziellen Pathologie und Therapie innerer Krankheiten“.6

Erste Medizinprofessorin Preußens

1908 wurde Hirsch von Kraus die Leitung der Poliklinik der II. Medizinischen Klinik der Charité übertragen. Obwohl sie sich als Frau nicht habilitieren konnte (das Habilitationsrecht für Frauen wurde 1920 eingeführt), wurde ihr 1913 für ihre wissenschaftlichen Leistungen als erster Ärztin in Preußen der Professorentitel verliehen. Im selben Jahr wurde sie als erste7 (und bis 1921 einzige) Frau in die DGIM aufgenommen, des Weiteren auch in die renommierte Berliner Medizinische Gesellschaft.

1919 schied Hirsch aus der Charité aus und ließ sich als Ärztin für Innere Erkrankungen nieder. Bereits während ihrer Kliniktätigkeit praktizierte sie am Schöneberger Ufer 31, ab 1919 dann in der Königin-Augusta-Straße 22, seit 1928 am Kurfürstendamm 220. In ihrer mit modernen Röntgengeräten ausgestatteten letzten Praxis nutzte sie verstärkt die diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten der Strahlenmedizin.

Gesundheitspolitisches Engagement

Hirsch war kein Mitglied im Bund deutscher Ärztinnen oder in anderen fach- bzw. gesundheitspolitischen Verbänden. Dennoch engagierte sie sich sehr für die Belange von Frauen. Sie setzte sich für eine geschlechtsspezifische gesundheitliche Beratung ein, plädierte für die Überwindung überkommener Rollenbilder und sprach sich für bequeme Kleidung und sportliche Aktivität, gerade auch nach der Schwangerschaft, aus. Zu dieser Thematik veröffentlichte sie 1913 ihr Buch „Körperkultur der Frau“.8

Umbruch 1933 – Armut und Krankheit in London

Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme wurde Hirsch im April 1933 die Kassenzulassung, im April 1934 auch die Berechtigung, privat versicherte Patientinnen und Patienten zu behandeln, entzogen.9 Im September 1938 wurde ihre Approbation aberkannt.

Hirsch entschied sich zur Flucht aus Deutschland und emigrierte Anfang Oktober 1938 zu einer Schwester nach London. Zu diesem Zeitpunkt bereits 68 Jahre alt, verzichtete sie auf die englische Approbation, für die sie neuerliche Examina hätte ablegen müssen, und arbeitete zunächst als Laborassistentin, dann als Übersetzerin. Sie geriet in finanzielle Bedrängnis und war auf die Unterstützung von Wohltätigkeitsorganisationen angewiesen. Die Exilsituation belastete sie auch emotional schwer. Sie erkrankte psychisch und wurde wiederholt stationär behandelt. Im Alter von 83 Jahren verstarb sie in einem „Mental House“.

Rahel Hirsch war nie verheiratet und hatte keine Kinder. Mindestens zwei ihrer Geschwister starben in deutschen Konzentrationslagern.

Gedenken

Seit 1995 steht eine Bronzeplastik von Hirsch auf dem Gelände der Berliner Charité, die seit 1999 auch ein Rahel-Hirsch-Stipendium als Habilitationsstipendium für junge Wissenschaftlerinnen vergibt.10 Am Kurfürstendamm 220 erinnert eine Gedenktafel an sie, in Berlin-Moabit ist eine Straße nach ihr benannt. Seit 2015 trägt ein Berliner Oberstufenzentrum ihren Namen.11


Quellennachweise

Dieses Biogramm findet sich sehr ähnlich auch in: Vina Zielonka/Ralf Forsbach/Hans-Georg Hofer/Ulrich R. Fölsch, Gegen das Vergessen: Jüdische Ärztinnen der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin im Porträt, in: Deutsche Medizinische Wochenschrift 147 (2022), S. 1596-1604, S. 1596 ff. – Zur Biographie vgl. u.a. Benjamin Kuntz et al., Rahel Hirsch. Zum 150. Geburtstag der ersten Medizinprofessorin Deutschlands, in: Deutsche Medizinische Wochenschrift 145 (2020), S. 1840–1847; Gerhard Volkheimer, Rahel Hirsch, in: Neue Deutsche Biographie 9 (1972), S. 209 f., auch einsehbar unter: https://www.deutsche-biographie.de/sfz32523.html#ndbcontent (einges. 14.3.2022); Hedvah Ben Zev, Rahel Hirsch. Preußens erste Medizinprofessorin, Berlin 2005 (= Jüdische Miniaturen, Bd. 24); Eva Brinkschulte, Professor Dr. Rahel Hirsch (1870–1853) – der erste weibliche Professor – vertrieben, verfolgt, vergessen, in: Dies. (Hg.), Weibliche Ärzte. Die Durchsetzung des Berufsbildes in Deutschland, Berlin ²1995, S. 103–133.    Vgl. Rahel Hirsch, Ein Beitrag zur Lehre von der Glykolyse, Diss. med. Straßburg 1903.Vgl. Rahel Hirsch, Ueber das Vorkommen von Stärkekörnern im Blut und Urin, in: Zeitschrift für experimentelle Pathologie und Therapie 3 (1906), S. 390–392.Vgl. Annette Kerckhoff, Rahel Hirsch, in: Dies., Heilende Frauen, München 2010, S. 46–47; Eva-Bettina Bröcker, Frau Doktor – und was dann? Festvortrag zur Promotionsfeier der Medizinischen Fakultät am 16. Mai 2003 in der Neubaukirche der Universität Würzburg, in: Würzburger medizinhistorische Mitteilungen 23 (2004), S. 589–592.Vgl. Gerhard Volkheimer, Der Uebergang kleiner fester Theilchen aus dem Darmcanal in den Milchsaft und das Blut, in: Wiener Medizinische Wochenschrift 114 (1964), Nr. 51/52; Gerhard Volkheimer u. a., Über bemerkenswerte Eliminationsfähigkeiten der glomerulären Gefäße, in: Das Deutsche Gesundheitswesen 20 (1964), H. 1; J. Kohn, L'effet Hirsch, in: amif. Revue de l'Association des Médecins Israélites de France 16 (1967).Vgl. Rahel Hirsch, Therapeutisches Taschenbuch der Elektro- und Strahlentherapie, Berlin 1920; Carl Oppenheimer, Handbuch der Biochemie des Menschen und der Tiere, Jena 1909–1913; Friedrich Kraus/Theodor Brugsch, Spezielle Pathologie und Therapie innerer Krankheiten, Berlin/Wien 1919.Im Gründungsjahr der DGIM 1882 stellte Mathilde von Wulffert (1856–1927) die einzige Frau unter 162 Mitgliedern dar. Ab 1883 wurde die in Paris wirkende Ärztin jedoch nicht weiter im Mitgliedverzeichnis geführt; vgl. Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin 1 (1882), S. 5 (und Folgebände).Vgl. Rahel Hirsch, Körperkultur der Frau, Wien 1913.Vgl. Stephan Leibfried/Florian Tennstedt (Hg.), Berufsverbote und Sozialpolitik 1933. Die Auswirkungen der nationalsozialistischen Machtergreifung auf die Krankenkassenverwaltung und die Kassenärzte, Bremen 1982, S. 257.Vgl. Charité Denkmäler berühmter Politiker und Wissenschaftler, einsehbar unter: denkmaeler.charite.de (einges. 14.3.2022); zum Rahel-Hirsch-Stipendium: https://nachwuchs.charite.de/wissenschaftler/habilitations_rahel_hirsch_stipendien/ (einges. 14.3.2022).Homepage der Rahel-Hirsch-Schule: www.rahel-hirsch-schule.de (einges. 14.3.2022).

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